Die Zahl der bestaetigten Faelle bei der Coronavirus-Pandemie steigt zwischen dem Rio Grande und Feuerland bisher noch eher langsam. Aber ein Blick hinueber nach Europa reicht aus, um eine vage Idee zu bekommen was bevorsteht. Die vorhandenen finanziellen Ressourcen und die schwachen Strukturen der oeffentlichen Gesundheitswesen verbunden mit der eklatanten Kluft zwischen Arm und Reich machen ein Abfedern dieser Extremsituation nahezu unmoeglich.
Lateinamerika hat, soweit eben moeglich, wesentlich schneller teils einschneidende Praeventivmassnamen ergriffen, als dies in Europa im vergleichbaren Fortschrittsphase der Pandemie der Fall war und ist.
Die mittlerweile fast ueberall verhaengten rigurosen Ausgangssperren galten zunaechst von den Abendstunden an bis zum naechsten Morgen und sind mittlerweile in den meisten Faellen auf 24 Stunden erweitert worden. Schulen, Unis, Theater und Kinos sind geschlossen; das oeffentliche und wirtschaftliche Leben findet derzeit nicht statt.
Die Ausgangssituation Lateinamerikas und wahrscheinlich des Globalen Suedens insgesamt ist eine andere in dieser Pandemie als dies im Globalen Norden der Fall ist.
Miguel Lago, Leiter des Studienzentrums fuer Gesundheitspolitik, mit Sitz in Río de Janeiro / Brasilien hat kuerzich festgestellt, dass Lateinamerika staerker als andere Regionen von der Coronavirus-Pandemie mit grosser Wahrscheinlichkeit in Mitleidenschaft gezogen wird. Den Grund hierfuer findet man u.a. in den voellig unzureichenden, teils seit Jahren weiter gekuerzten Staatsausgaben fuer das oeffentliche Gesundheitswesen.
Durchschnittlich bestreiten 60% bis 70% der Erwerbstaetigen in Lateinamerika ihren Lebensunterhalt im imformellen Sektor; man lebt vom Hand in den Mund. Die verhaengten Ausgangssperren stellen nun viele vor die Wahl, hungernd in haeuslicher Quarantaene auszuharren oder sich der Gefahr einer Infizierung auszusetzen, indem man so gut es eben geht seiner Erwerbsquelle nachgeht. Mehrheitlich besitzen die Familien keinerlei Ruecklagen, um voruebergehende Einkommensausfaelle auffangen zu koennen. Kurzarbeitergeld, Arbeitslosenhilfe oder sonstiges sind Fremdworte.
Die Situation der Krankenhaus- und der oeffentlichen Gesundheitswesen sind Lichtjahre von europaeischen Standarts entfernt; ein kleiner Vergleich unterstreicht dies: Deutschland kommt derzeit bei 83 Millionen Einwohnern auf 28.000 Intensivstationsbetten. In Bolivien stehen bisher fuer 11 Millionen Einwohner 252 Betten fuer Coronaviruspatienten bereit, fuer schwere Verlaeufe gibt es 35 Betten. In Bolivien und anderswo wird es zwangslaeufig darauf hinauslaufen dass, wenn ueberhaupt, nur derjenige, welches bei Kasse ist, beatmet wird. Selbst betuchte Leute laufen Gefahr, im Notfall keinen Zugang zu lebensrettender medizinischer Infrastruktur zu haben.
Deutschland gehoert derzeit zur Laendergruppe, die die meisten Infizierten zaehlt; dennoch liegt die Sterblichkeitsrate (0,4%) deutlich niedriger als in anderen Laendern. Europa besitzt Ressourcen und Kapazitaeten, die selbst eine zivilisationsbedrohende Pandemie scheinbar abzufedern im Stande ist. Im Globalen Sueden treten an die Stelle von Kapaziteten und Ressourcen die ohnehin eklatante Unterversorgung sowie die fast voellig fehlende soziale Absicherung.
Die strukturellen Schwaechen der staatlichen Gesundheitswesen verbunden mit der riesigen Kluft zwischen Arm und Reich und dem fehlenden Zugang vieler zu Grundbedarfsservices lassen nicht einmal einen Schimmer von Wohlfahrtsgesellschaften zu.
Waehrend in der EU milliardenschwere Rettungsschirme gespannt werden, um Arbeitnehmer vor allem aber die Wirtschaft selbst halbwegs zu stabilisieren, kommt in Lateinamerika und dem Globalen Sueden wegen der hierfuer gaenzlich fehlenden Finanzmittel niemand erst auf die Idee solcher Rettungsaktionen.
In Peru hat man gerade eine bescheidenen Unterhaltsbeihilfe von monatlich 100 Euro fuer Familien eingerichtet, die im informellen Sektor unterkommen und nun joblos sind. In Bolivien sind, wie in allen fast allen Laendern die Schulen geschlossen. Fuer viele Kinder faellt dadurch nicht nur der Unterricht aus, sondern auch die essentiell wichtige Schulspeisung weg. Und fuer den Unterricht in digitalen Plattformen braucht man einen PC, den viele Familien nicht besitzen. In Kolumbien, wo die staatlichen Schulen in den Verantwortungsbereich der Kommunen fallen, besitzen 96% der Kommunen nicht die Mittel, um die Fortsetzung des Unterrichts in digitaler Weise fortzusetzten.
Die von Marktmechanismen gesteuerte Oekonomie zeigt nun einmal mehr ihre Perversitaet der Ausgrenzung und katapultiert die Bevoelkerungsmehrheiten in finanzielle Grenzsituationen.
In den meiste Laendern Lateinamerikas konnte vereinbart werden, faellige Kreditraten zu stunden. Auf strukturelle Antworten seitens der kapitalstarken Gruppen, um spuerbare Beitraege im Rahmen dieser nie dagewesenen Krise beizutragen, wartet man bisher vergeblich.
Aufrufe an die lokalen Communities, solidarisch zu sein, mit dem Anderen, das Wenige, was man selbst hat, zu teilen, sind an der Tagesordnung. Solidaritaet funktioniert hier. Dagegen halten sich Globalplayers und nationale Eliten dezent zurueck.
Solange diejenigen, welche finanziell dazu im Stande sind, zu helfen, dies nicht fuer noetig halten, sind die Bemuehungen der einfachen Buerger und auch der nationalen Regierungen in Lateinamerika dazu verdammt, Trostpflaster zu bleiben.
Der katholische Bischof von Quibdó – Kolumbien, Mons. Juan Carlos Barreto, spricht in seinem Artikel in einer nationalen Tageszeitung davon, dass es sich nicht um Almosen handelt, sondern um die verdammte Pflicht derjenigen, welche Gewinne in astronomischer Hoehe eingefahren haben und sich moralisch verpflichtet fuehlen muessten, in die Bresche zu springen. Einige wenige Initiativen in diese Richtung sind gestartet, so beispielsweise in Bogota, in Form eines Gemeinschaftsfonds sowie Initiativen von Unternehmerkreisen in diese Richtung.
Im Rahmen der sehr begrenzten Moeglichkeiten wird versucht, den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie vorzubeugen; aber die insgesamt fuer Katastrophenfaelle budgetierten Haushaltsmittel reichen vielerorts hinten und vor nicht. Per Dekret sind Mieter nun bei Zahlungsunfaehigkeit davor geschuetzt, aus ihrem Mietwohnraum geworfen zu werden. Aehnliches passiert zum Thema voruebergehender Kuendigungsschutz, sowie garantierter Zugnag zu Wasser, Energie und Internet. Damit sind die Moeglichkeiten schon ausgereizt.
Die wirtschaftliche Verwundbarkeit der uebergrossen Mehrheit in Lateinamerika, Ergebnis der wahnsinnigen Ungleichheiten bei Einkommen, Konsum, Zugang zu Erziehung, Gesundheitsversorgung wird durch die Pandemie schamlos entbloesst – Schoenmalerei funktioniert nicht mehr.
Es koennen, ja muessen Schluesse aus alldem gezogen werden: Ueberwindung der Merkantilisierung fast aller Lebensbereiche und der Wachstumsglaeubigkeit hin zu einer Gemeinwohloekonomie, jenseits der derzeitigen Bemuehungen, nach Kraeften den Konjunktureinbruch zu schmaelern. Ermoeglichung eines menschenwuerdigen Daseins auch und allem fuer die Millionen von benachteiligten Menschen. Gesellschaften, die fuer alle sorgen, fuer alle Grundversorgung garantieren und durch weniger Ungleichheiten gepraegt sind.
In 20 Haupststaedten der insgesamt 27 Bundesstaaten Brasiliens kommt es zu Protesten der Menschen – nicht auf der Strasse, den dies ist zur Zeit verboten. Viele Menschen machen ihrem Unmut und Entsetzen ueber die voellig verantwortungslose Art und Weise wie Praesident Bolsonaro die Pandemie politisch haendelt Luft – alles von ihre Fenstern aus. In den meisten Laendern dagegen sind es Gruppen innerhalb der Regierungen, die ihr Sueppchen kochen. Im Schatten der Medienaufmerksamkeit, vollkommen in den Bann der Pandemie gezogen und einer von Angst und Panik absorbierten Zivilgesellschaft spannen einige die Pandemie vor den eigenen Karren.
In Bolivien hat sich die Interimsregierung, sicherlich im Einklang mit der Agrarindustrie darangemacht, eine neue transgene Sojasorte zu legalisieren. Dahinter steckt die Bestrebung, die etwa 4 Millionen durch die verheerenden, groesstenteils durch Menschen provozierten Waldbraende Ende letzten Jahres in einen riesigen Sojaguertel zu verwandeln.
In Honduras besitzt die Regierung keinerlei Skrupel, die Ausgangssperre dazu zu nutzen, unbequeme Sozial- und Umweltaktivisten festzusetzen, alles unter dem Deckmantel der Quarantaene. Das Militaer nimmt willkuerlich Hausdurchsuchungen vor und begruendet dies wegen des bestehenden Verdachts von Conronavirus-Positiven. Menschenrechtler, die in den Sozialen Netzten auf die absolut defizitaeren und gesundheitsgefaehrdenden Bedingungen hinweisen, unter denen Menschen wegen Infektionsverdacht in Quarantaene gehalten werden, verwandeln sich in Zielscheibe von Beleidigung und Bedrohung.
Die Polizei in Guatemala geht gegen Regierungskritiker vor und beruft sich hierbei fadenscheinig auf Quarantaene-Sicherheitsprotokolle; diese sind aber im oeffentlichen Gesundheitsapparat des Landes gaenzlich unbekannt.
In Pacto – Ekuador kommt es seit der Verhaengung der Ausgangssperre zu umgfangreichen Explotationsaktiviaeten der ansaessigen Mega-Bergbaugesellschaft, darunter zu Sprengungen. Dies waere ohne gruenes Licht seitens des Staats nicht moeglich. Aehnliches kann aus Peru berichtet werden, wo der uebergrosse Anteil der Industrie und Dienstleistungssektor stillsteht. Der Bergbausektor ist seitens der Regierung, fuer viele ueberraschend und nicht nachvollziehbar, ausgenommen und kann weitermachen. In Ekuador werden Kleinbauern, um ihre Produkte auf den Markt zu bringen, von den Ordnungskraeften wegen des Nichteinhaltens der Ausgansgspere immer wieder behindert und teils festgenommen, wenn gleichzeitig gesetzlich zugesichert ist, dass alle Aktivitaeten zur Grundversorgung der Bevoelkerung weitergehen muessen.
Kolumbien ist weiterhin Schauplatz der systematischen Ermordung von Sozialaktivsten. Allein in der Woche vom 15 zum 21 Maerz wurden weitere 4 Aktivisten ermordet. Umweltschutzbewegungen haben durch medienwirksame Proteste erreichen koennen, dass waehrend der Ausgangssperren die Genehmingungsverfahren im Rahmen der Umweltvertraeglichkeitspruefungen fuer Megabergbauvorhaben –beispielsweise des geplanten Goldabbaus im Paramo von Santurban als lebenswichtiges Trinwassereinzugsgebiet- ausgesetzt werden.
Der Kampf bezuglich der Kontrolle von Territorien, welche die Guerrilla im Rahmen des Friedensabkommens geraeumt hat, geht weiter, ob mit oder ohne Quarantaene und nimmt derzeit noch an Gewalt zu. Ergebnis sind von der Gewalt eingeschlossene indigene Doerfer und Menschen auf der Flucht. Sowohl in Kolumbien als auch in anderen lateinamerikanischen Laendern ist es mittlerweile zu Meutereien in den Gefaengnissen gekommen da dort die Infektionsgefahr noch groesser ist und keinerlei medizinische Versorgung besteht.
Zusammenfassend kann festgehalten werden dass die Pandemie und die hiermit verbundene derzeitige Situation scheinbar von einzelnen einflussreichen Gruppen, auch innerhalb der Regierungen dazu benutzt werden, um Gesetzesinitiativen auf den Weg zu bringen, die wenig bis gar keine Umweltvertraeglichkeit beruecksichtigen und das ehedem bruechige soziale Gleichgewicht noch weiter belasten werden. Die Kriminalisierung des sozialen Protests und die Verfolgung von couragierten Aktivisten geht weiter. Skrupel, die Pandemie als Vorwand zu benutzen, scheinen die Gruppen nicht zu haben.
Das Szenarium Lateinamerikas ist durch hohe Prekarität, einem bevorstehenden Kollaps der oeffentlichen Gesundheitswesens und des sehr begrenzten Massnahmenkatalogs der Regierungen gepraegt. Es ist wahrscheinlich, dass im Rahmen dieser Krise Gewaltsituation zunehmen und es moeglicherweise zu Plünderungen
Fotografie: David Flores
kommen wird.
In der derzeitgen Situation hat die Pandemie die Regie uebernommen – aber offenbar nicht für alle, wenn wir an die Gruppen und Sektoren innerhalb mehrerer lateinamerikanischer Regierungen denken, die Maßnahmen wie Ausgangssperren missbrauchen, um auf illegale Weise kritische Meinungen zu unterdrücken.
Diese Krise verdeutlicht nun in brutaler Weise die Inexistenz eines Wohlfahrtsstaats in der Region; Bereiche wie Gesundheit, Bildung, menschenwürdige Beschäftigung und soziale Grundversorgung sind systematisch vernachlässigt worden. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist noch groesser geworden.
Die schlechten Voraussetzungen Lateinamerikas, um der Pandemie zu entgegnen, lassen sich leicht auf einen Nenner bringen: Armut, Informalität, Elend und ein Modell bzw. Entwicklungslogik der exzessiven Akkumulation. Dieses Elend, vom Modell bisher immer wieder geschickt kaschiert, wird nun sichtbar. Derzeit geht es in Lateinamerika und im Globalen Sueden um mehr als den Zusammenbruch des Gesundheitssystems; die Grundprinzipien des menschlichen Zusammenlebens werden hier gerade in Frage gestellt.
Von den Möglichkeiten, aus dieser extremen Situation zu lernen
Die Pandemie als gegenwärtige zivilisatorische Bedrohung wird von immer mehr Menschen auch als historische Chance begriffen, die Dinge zu überdenken und einen anderen Weg einzuschlagen.
Wir werden überrascht sein, wenn die Krise vorbei ist, sagt der Zukunftsforscher Matthias Horx. Wenn alles vorbei ist, kehren wir wieder zur Normalitaet zurueck? Fuer Horz niemals, da wir derzeit einen historischen Moment durchleben und –leiden, der dabei ist, die Richtung der Zukunft zu veraendern.
Die Frage ist, ob wir in der Lage sind, diese Krise zu einer Chance zu machen, diesen Weg, der “Entwicklung” genannt wird, neu auszurichten.
Einige Wissenschaftler sehen einen direkten Zusammenhang zwischen der Coronavirus-Pandemie und dem, was die Menschheit in den letzten Jahrzehnten im Namen des Fortschritts und Entwicklung angestellt hat, darunter genetische Manipulation, ohne ausreichend zu beruecksichtigen oder gar zu verstehen, dass dies zu immer tiefgreifenderen oekosystemischen Stoerungen und Ungleichgewichten geführt hat.
Im angebrochenen Anthropozaen werden wir uns, solange die Devise ein Weiter So bleibt, daran gewoehnen muessen, mit durch von uns verursachten Veränderungen zuruechzukommen, auch wenn diese für uns alle bisher unvorstellbar sind.
Vom moeglichen Ausbruch sowie Wahrscheinlichkeit einer Pandemie war seit laengerem bereits die Rede. Dabei wurde aber stehts davon ausgegangen, dass es unsere Technologie schon richten wird; zumindest derzeit ist nicht andem. Ähnlich wie im Fall der Vogelgrippe, die offiziell von Zugvoegeln auf den Menschen uebertragen wurde, wird die Ursache beim Coronavirus in der Natur vermutet. Dabei scheint der ideale Nährboden für neue Viren eher in Tierfabriken mit übermäßigem Antibiotikaeinsatz und einer enormen, alles andere als tiergerechten Haltung auf engstem Raum gegeben.
Es zeigt sich bereits jetzt, dass die sozialen und wirtschaftlichen Kosten, die durch die Coronavirus-Pandemie verursacht werden, sehr hoch sein werden; die Wahrscheinlichkeit weiterer Pandemien ist gegeben. Die Fähigkeit der Staaten und Regionen, auf diese Extremsituationen zu reagieren, zeichnet bereits jetzt ein Bild extremer globaler Ungleichheiten. Insgesamt werden jedoch die Reaktionsmoeglichkeiten, je laenger Pandemien anhalten oder je haeufiger auftreten, immer weiter abbröckeln – selbst bei denen, die derzeit noch halbwegs gut dastehn.
Die Pandemie lässt uns gar keine andere Wahl, als neue Wege zu gehen und aus den Fehlern Schluesse zu ziehen. Es wird nicht mehr so wie vorher sein.
Wenn das Virus besiegt ist oder wenn es uns gelingt, harmonischer in Koexistenz zu leben, die Technologie, die heute sichtlich an ihre Grenzen stößt, uns die Koexistenz ermöglicht, werden wir erneut die Frage beantworten müssen, ob die bisher gültigen oder befolgten Paradigmen noch richtungsweisend sein können. Fuer einige stellt sich diese Frage bereits seit laengerem.
Die Pandemie kann als Zeichen dafuer verstanden werden, dass wir nicht auf dem gleichen Weg weitermachen können. Die logische Konsequenz wäre die Überwindung der Paradigmen, die das derzeitige Modell der konventionellen Entwicklung leiten.
Wir werden uns als Menschen neu denken müssen, wir werden unseren Glauben an Technik und Fortschritt in Frage stellen müssen.
Neue Formen der Solidarität, des Handelns und Denkens enstehen nun im Rahmen der Krise: Gemeinwohl und Gemeinschaft werden (wieder)entdeckt.
Die Pandemie ist Gelegenheit, die gegenwärtige Krise als den Beginn längst überfälliger Transformationen und paradigmatischer Übergänge zu verstehen, um die Tür zu einer Zukunft mit Zukunft zu öffnen. Da uns die Pandemie weltweit betrifft –einige in komfortablerer Lage als andere- muss die Herausforderung hin zu einer Großen Transformation als gemeinsame Aufgabe angegangen werden. Wir scheinen dabei, diesen Punkt langsam zu erreicht.
Zu verstehen, dass wir aufeinander angewiesen sind, da nicht die Lebensbedingungen, sondern das Leben selbst in Gefahr ist, hilft uns, kollektive Solidaritaet und Verantwortung in ihrer wahren Dimension wertzuschaetzen.
Vielleicht ist es ja DIE Gelegenheit, zu sehen, dass es an uns liegt, die Dinge zu veraendern, um zukunftsfaehige und enkeltaugliche Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen schrittweise zu erreichen.
Die globale Krise wird es notwendig machen, unsere Lebensweise, unsere Beziehungen, unseren Konsum und vieles mehr zu überdenken.
Die Botschaft ist klar: wir können nicht am Weiter So festhalten.
Vorlaeufiges Dokument der Gruppe RESONANCIA, der derzeit Personen aus Honduras, Kolumbien, Ekuador, Perú, Bolivien, Brasilien und Deutschland angehoeren – aus dem Spanischen uebersetzt von Jorge Krekeler
Hinweis: Dieser Text ist frei abdruckbar mit dem Hinweis: www.horx.com und www.zukunftsinstitut.de.
Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn „vorbei sein wird”, und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt.
Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können. Dafür möchte ich Ihnen eine Übung anbieten, mit der wir in Visionsprozessen bei Unternehmen gute Erfahrungen gemacht haben. Wir nennen sie die RE-Gnose. Im Gegensatz zur PRO-Gnose schauen wir mit dieser Technik nicht »in die Zukunft«. Sondern von der Zukunft aus ZURÜCK ins Heute. Klingt verrückt? Versuchen wir es einmal:
Die Re-Gnose: Unsere Welt im Herbst 2020
Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir im September 2020. Wir sitzen in einem Straßencafe in einer Großstadt. Es ist warm, und auf der Strasse bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der Kaffee, wieder wie früher? Wie damals vor Corona?
Oder sogar besser?
Worüber werden wir uns rückblickend wundern?
Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre führten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.
Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an.
Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fussballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab. Wir wundern uns, warum das so ist.
Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der Business-Flieger war besser) stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für Viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist.
Gleichzeitig erlebten scheinbar veraltete Kulturtechniken eine Renaissance. Plötzlich erwischte man nicht nur den Anrufbeantworter, wenn man anrief, sondern real vorhandene Menschen. Das Virus brachte eine neue Kultur des Langtelefonieren ohne Second Screen hervor. Auch die »messages« selbst bekamen plötzlich eine neue Bedeutung. Man kommunizierte wieder wirklich. Man ließ niemanden mehr zappeln. Man hielt niemanden mehr hin. So entstand eine neue Kultur der Erreichbarkeit. Der Verbindlichkeit.
Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen, machten plötzlich ausgiebige Spaziergänge (ein Wort, das vorher eher ein Fremdwort war). Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult.
Reality Shows wirkten plötzlich grottenpeinlich. Der ganze Trivia-Trash, der unendliche Seelenmüll, der durch alle Kanäle strömte. Nein, er verschwand nicht völlig. Aber er verlor rasend an Wert.
Kann sich jemand noch an den Political-Correctness-Streit erinnern? Die unendlich vielen Kulturkriege um … ja um was ging da eigentlich?
Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, über-flüssig machen…
Zynismus, diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten, war plötzlich reichlich out.
Die Übertreibungs-Angst-Hysterie in den Medien hielt sich, nach einem kurzen ersten Ausbruch, in Grenzen.
Nebenbei erreichte auch die unendliche Flut grausamster Krimi-Serien ihren Tipping Point.
Wir werden uns wundern, dass schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, die die Überlebensrate erhöhten. Dadurch wurden die Todesraten gesenkt und Corona wurde zu einem Virus, mit dem wir eben umgehen müssen – ähnlich wie die Grippe und die vielen anderen Krankheiten. Medizinischer Fortschritt half. Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt.
Damit hat sich das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur verschoben. Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene – glauben heute noch an die große digitale Erlösung. Der große Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?
Wir staunen rückwärts, wieviel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist.
Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie »Zusammenbruch« tatsächlich passierte, der vorher bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Obwohl es einen »schwarzen April« gab, einen tiefen Konjunktureinbruch und einen Börseneinbruch von 50 Prozent, obwohl viele Unternehmen pleitegingen, schrumpften oder in etwas völlig anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft ein atmendes Wesen, das auch dösen oder schlafen und sogar träumen kann.
Heute im Herbst, gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die Globale Just-in-Time-Produktion, mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, hat sich überlebt. Sie wird gerade demontiert und neu konfiguriert. Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance. Das Global-System driftet in Richtung GloKALisierung: Lokalisierung des Globalen.
Wir werden uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.
Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?
RE-Gnose: Gegenwartsbewältigung durch Zukunfts-Sprung
Warum wirkt diese Art der »Von-Vorne-Szenarios« so irritierend anders als eine klassische Prognose? Das hängt mit den spezifischen Eigenschaften unseres Zukunfts-Sinns zusammen. Wenn wir »in die Zukunft« schauen, sehen wir ja meistens nur die Gefahren und Probleme »auf uns zukommen«, die sich zu unüberwindbaren Barrieren türmen. Wie eine Lokomotive aus dem Tunnel, die uns überfährt. Diese Angst-Barriere trennt uns von der Zukunft. Deshalb sind Horror-Zukünfte immer am Einfachsten darzustellen.
Re-Gnosen bilden hingegen eine Erkenntnis-Schleife, in der wir uns selbst, unseren inneren Wandel, in die Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir setzen uns innerlich mit der Zukunft in Verbindung, und dadurch entsteht eine Brücke zwischen Heute und Morgen. Es entsteht ein »Future Mind« – Zukunfts-Bewusstheit.
Wenn man das richtig macht, entsteht so etwas wie Zukunfts-Intelligenz. Wir sind in der Lage, nicht nur die äußeren »Events«, sondern auch die inneren Adaptionen, mit denen wir auf eine veränderte Welt reagieren, zu antizipieren.
Das fühlt sich schon ganz anders an als eine Prognose, die in ihrem apodiktischen Charakter immer etwas Totes, Steriles hat. Wir verlassen die Angststarre und geraten wieder in die Lebendigkeit, die zu jeder wahren Zukunft gehört.
Wir alle kennen das Gefühl der geglückten Angstüberwindung. Wenn wir für eine Behandlung zum Zahnarzt gehen, sind wir schon lange vorher besorgt. Wir verlieren auf dem Zahnarztstuhl die Kontrolle und das schmerzt, bevor es überhaupt wehtut. In der Antizipation dieses Gefühls steigern wir uns in Ängste hinein, die uns völlig überwältigen können. Wenn wir dann allerdings die Prozedur überstanden haben, kommt es zum Coping-Gefühl: Die Welt wirkt wieder jung und frisch und wir sind plötzlich voller Tatendrang.
Coping heißt: bewältigen. Neurobiologisch wird dabei das Angst-Adrenalin durch Dopamin ersetzt, eine Art körpereigener Zukunfts-Droge. Während uns Adrenalin zu Flucht oder Kampf anleitet (was auf dem Zahnarztstuhl nicht so richtig produktiv ist, ebenso wenig wie beim Kampf gegen Corona), öffnet Dopamin unsere Hirnsynapsen: Wir sind gespannt auf das Kommende, neugierig, vorausschauend. Wenn wir einen gesunden Dopamin-Spiegel haben, schmieden wir Pläne, haben Visionen, die uns in die vorausschauende Handlung bringen.
Erstaunlicherweise machen viele in der Corona-Krise genau diese Erfahrung. Aus einem massiven Kontrollverlust wird plötzlich ein regelrechter Rausch des Positiven. Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst entsteht eine innere Kraft. Die Welt »endet«, aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind, entsteht eine Art Neu-Sein im Inneren.
Mitten im Shut-Down der Zivilisation laufen wir durch Wälder oder Parks, oder über fast leere Plätze. Aber das ist keine Apokalypse, sondern ein Neuanfang.
So erweist sich: Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahr-Nehmungen und Welt-Verbindungen. Dabei ist es manchmal gerade der Bruch mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren Zukunfts-Sinn wieder freisetzt. Die Vorstellung und Gewissheit, dass alles ganz anders sein könnte – auch im Besseren.
Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AFD zeigt ernsthafte Zerfransens-Erscheinungen, weil eine bösartige, spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen haben. Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich, das im Populismus wohnt.
Politik in ihrem Ur-Sinne als Formung gesellschaftlicher Verantwortlichkeiten bekam dieser Krise eine neue Glaubwürdigkeit, eine neue Legitimität. Gerade weil sie »autoritär« handeln musste, schuf Politik Vertrauen ins Gesellschaftliche. Auch die Wissenschaft hat in der Bewährungskrise eine erstaunliche Renaissance erlebt. Virologen und Epidemiologen wurden zu Medienstars, aber auch »futuristische« Philosophen, Soziologen, Psychologen, Anthropologen, die vorher eher am Rande der polarisierten Debatten standen, bekamen wieder Stimme und Gewicht.
Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie saures Bier angeboten wurden.
Ein Virus als Evolutionsbeschleuniger
Tiefe Krisen weisen obendrein auf ein weiteres Grundprinzip des Wandels hin: Die Trend-Gegentrend-Synthese.
Die neue Welt nach Corona – oder besser mit Corona – entsteht aus der Disruption des Megatrends Konnektivität. Politisch-ökonomisch wird dieses Phänomen auch »Globalisierung« genannt. Die Unterbrechung der Konnektivität – durch Grenzschließungen, Separationen, Abschottungen, Quarantänen – führt aber nicht zu einem Abschaffen der Verbindungen. Sondern zu einer Neuorganisation der Konnektome, die unsere Welt zusammenhalten und in die Zukunft tragen. Es kommt zu einem Phasensprung der sozio-ökonomischen Systeme.
Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch Verbundenheit qualitativer gestalten. Autonomie und Abhängigkeit, Öffnung und Schließung, werden neu ausbalanciert. Dadurch kann die Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden. Diese Umformung ist weitgehend ein blinder evolutionärer Prozess – weil das eine scheitert, setzt sich das Neue, überlebensfähig, durch. Das macht einen zunächst schwindelig, aber dann erweist es seinen inneren Sinn: Zukunftsfähig ist das, was die Paradoxien auf einer neuen Ebene verbindet.
Dieser Prozess der Komplexierung – nicht zu verwechseln mit Komplizierung – kann aber auch von Menschen bewusst gestaltet werden. Diejenigen, die das können, die die Sprache der kommenden Komplexität sprechen, werden die Führer von Morgen sein. Die werdenden Hoffnungsträger. Die kommenden Gretas.
„Wir werden durch Corona unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – im Sinne unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen.”
Slavo Zizek im Höhepunkt der Coronakrise Mitte März
Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist. Eine der stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt, sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision senden uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. 2020 wird der CO&sub2;-Ausstoss der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache wird etwas mit uns machen.
Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch? Vielleicht war der Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt.
Aber sie kann sich neu erfinden. System reset.
Cool down!
Musik auf den Balkonen!
So geht Zukunft.