Die Energie der Verbundenheit
Der Pfaffengrund ist so etwas wie die Rückseite von Heidelbergs Bilderbuchkulisse: Jenseits von Märchenschloss, historischer Altstadt und schicker Fachwerkarchitektur prägen triste Gewerbebauten das Bild des Stadtteils. Dafür gibt es hier etwas anderes, das strahlt: den Sitz des ersten bundesweiten Dachverbunds für Energiegenossenschaften.
Die Bürgerwerke wurden Ende 2013 von Kai Hock und Felix Schäfer gegründet. Die beiden sind jung, erst Anfang 30, und wie typische Geschäftsleute sehen sie nicht aus. Träfe man sie auf der anderen Neckarseite, dort, wo sich die älteste Universität Deutschlands befindet, würde man sie wahrscheinlich für Doktoranden halten.
Tatsächlich kamen Schäfer und Hock zunächst zum Studieren nach Heidelberg. Beide hatten sich für Naturwissenschaften entschieden, Schäfer für Physik und Hock für molekulare Biotechnologie. Eine gute Grundlage, um später im Energiebereich tätig zu werden, könnte man meinen – doch mit ihrer heutigen Arbeit hatten ihre Studieninhalte so gut wie nichts zu tun. Der eine entwickelte künstliche Hundenasen, der andere spezialisierte sich auf Kernforschung. „Ich hätte theoretisch auch Atomkraftwerke bauen können“, sagt Schäfer und lacht.
Die Begeisterung für die Energiewende hatten die beiden dagegen schon aus der Schule mitgebracht. Schäfer schrieb um das Jahr 2000 eine Erdkunde-Facharbeit, die für einigen Wirbel sorgte. Der damals 16-Jährige hatte errechnet, dass sich sein Heimatlandkreis Bad Dürkheim bis 2008 komplett mit regenerativen Energien versorgen könnte – und setzte sich in der Folge für ein Solardach auf seinem Gymnasium ein. Auch für Hock, der vom Niederrhein stammt, begann alles mit der Sonnenenergie: Während den Projekttagen in der elften Klasse besuchte er eine Solaranlagenfabrik und war so fasziniert, dass er sogleich in der Schule eine Arbeitsgruppe zu dem Thema gründete.
In Heidelberg trieben die beiden ihr Steckenpferd im Rahmen einer studentischen Gruppe weiter. Die setzte sich für Photovoltaik auf öffentlichen Dächern ein, beauftragte allerdings zunächst eine externe Firma, die die Solaranlagen installierte und an ihnen verdiente. Da sagten sich Hock und Schäfer: „Das können wir auch selbst, und zwar hier vor Ort“, und gründeten 2010 die HEG, die Heidelberger Energiegenossenschaft. Mit an Bord: zwei Kommilitonen – ein Lehrer und ein Geograf.
In der HEG sollten ganz normale Bürgerinnen und Bürger die Finanzierung lokaler Solaranlagen übernehmen. Investorinnen zu finden war dabei das geringste Problem der jungen Gründer, für die das Studium längst zur Nebensache geworden war: „Die Leute haben uns fünfstellige Summen überwiesen, dabei kannten die uns gar nicht. Das war schon ein bisschen verrückt“, wundert sich Schäfer rückblickend.
Allerdings war das noch in der goldenen Zeit der Energiewende. In Solarenergie zu investieren, galt als sichere Sache, dafür sorgte die fixe Vergütung der Bundesregierung. Die wurde mit der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Jahr 2012 jedoch eingeschränkt, mit den bekannten Folgen: Der deutsche Solarmarkt brach quasi zusammen; der Ausbau der erneuerbaren Energien wurde stark ausgebremst.
Hock und Schäfer wurde klar: Die Bürgerenergie-Idee, ja, die Energiewende selbst, musste auf ein ganz neues Fundament gestellt werden. Sie musste unabhängig werden von festen Abnahmepreisen und anderen Marktunwägbarkeiten, aber auch vom berüchtigten zentralisierten Stromnetz. Zumindest ein Stück weit. Das Konzept: Die Menschen sollten Ökostrom nicht nur lokal produzieren, sondern auch direkt vor Ort beziehen können. Konsumenten und Produzentinnen sollten eine Einheit bilden, im Idealfall eins werden. Aber wie genau ließe sich das umsetzen?
Hatte ein Haus nur einen Besitzer, war es kein Problem, ihn mit der Solarenergie vom eigenen Dach zu versorgen. Doch was war mit Mietshäusern mit vielen Parteien? Oder mit all jenen Genossenschaftlerinnen, die zwar in Solarenergie investierten, aber keine Photovoltaik auf dem eigenen Hausdach hatten, etwa weil es unter Denkmalschutz stand? Hock und Schäfer wollten, dass auch und gerade diese Leute Bürgerstrom aus erneuerbaren Energiequellen beziehen konnten. „Das ist ja sonst so, als ob ich Anteile an der Solidarischen Landwirtschaft habe, mein Gemüse aber bei Edeka kaufe“, erläutert Kai Hock.
Denn bis dato wurde der genossenschaftlich erzeugte Strom in das allgemeine Netz gespeist, von wo aus er über konventionelle Anbieter an die Kunden weiterverteilt wurde. Also floss zum Beispiel Strom der Bürgerwindanlage Gute Ute in Hessen durch die Leitungen von RWE zu Kunden im Allgäu. Hock und Schäfer erkannten: Energiegenossenschaften müssen selbst zu Versorgerinnen werden, damit die Genossen der Guten Ute auch direkt von ihr beliefert werden. Bald stellte sich allerdings heraus, dass dies für eine einzelne kleine Genossenschaft nicht zu bewältigen war. Solche Aufgaben müsste man gebündelt regeln, im Zusammenschluss vieler Energiegenossenschaften. Die Idee der Bürgerwerke als Dachverband war geboren.
Neun Genossenschaften fanden sich als Gründungsmitglieder zusammen, inzwischen sind über 50 dabei. Durch die Mitgliedschaft bei den Bürgerwerken werden sie zu Energieversorgerinnen mit festen und treuen Abnehmern, nämlich den eigenen Genossen. Gewinne fließen stets zu ihnen zurück, während die Bürgerwerke selbst nur ihre Kosten decken. Als Kunde bei den Bürgerwerken kann man dagegen lokal produzierten Ökostrom beziehen – auch dann, wenn man selbst keiner Genossenschaft angehört.
Durch die stetige Finanzierung treiben die Energiegenossenschaften den Ausbau regenerativer Energien voran; einige tragen außerdem zur CO2-Reduktion bei, indem sie Umweltprojekte unterstützen. Für jedes verbaute Solarmodul spenden sie einen Baumsetzling für den brasilianischen Regenwald, eine Kooperation mit dem BUND. Die Bürgerwerke selbst arbeiten zudem mit einem Künstler zusammen: Pablo Wendel setzte sich mit Performance Electrics bereits seit einiger Zeit künstlerisch mit der Energiewende auseinander; seit die Bürgerwerke ihn mit dem nötigen Knowhow versorgten, produzieren seine Energie-Kunstwerke echten Strom, mit dem sogar Kundinnen beliefert werden.
Dass der energetische Umbau der Gesellschaft keine rein technische Angelegenheit ist, haben die Bürgerwerke längst verstanden. Auch in der Geschäftsstelle in Heidelberg spiegelt sich ein vielschichtige Ansatz wider: Dort freuen sich Hock und Schäfer mittlerweile über neun Mitstreiter, die so unterschiedliche Disziplinen wie Informatik, Geografie, BWL und Ethnologie vereinen. Begeisterung zählt hier mehr als Business-Expertise, Hierarchien gibt es kaum. „Wir sind ein Haufen Generalisten“, erklärt Schäfer. Mittags wird gemeinsam vegetarisch gekocht, alle kommen mit dem Fahrrad zur Arbeit. Nicht, weil das eine Vorgabe wäre, es ist eben einfach so. Halb im Scherz denken Hock und Schäfer derzeit schon über Dienstfahrräder nach: „Orangefarbene Bürgerwerke-Fahrräder!“ Elektrisch – natürlich mit Bürgerstrom betrieben.