100 Prozent uebertragbar – Netzwerk 100ee Regionen und das Projekt RegioTwin tragen den Funken der Energiewende von Ort zu Ort
In dem kleinen Café am Kasseler Ständeplatz hängen gerahmte Schülerzeichnungen: Eine Art Riesenschleuder ist dort zu sehen, die mit einem Korken das Ozonloch verstopft und eine unglücklich dreinschauende Erde, der die Schweißperlen herablaufen. Entstanden sind die Karikaturen anlässlich des Pariser Klimagipfels im Dezember 2015, der schon wieder so fern wirkt: Die Titelseiten der großen Tageszeitungen auf den Café-Tischen zeigen frierende Geflüchtete statt schwitzende Planeten. Energiewende? Das hört sich an wie ein Problem aus fernen Zeiten, in denen Deutschland noch keine echten Sorgen hatte.
Tatsächlich sei die Begeisterung für das Thema ein wenig abgeflaut, erklärt Peter Moser und schließt dabei die Tür des Konferenzraums, der sich direkt über dem kleinen Café befindet. Zumindest im Vergleich zur „Euphoriephase für die Energiewende“, wie er die Zeit nennt, als die Bundesregierung 2011 den Atomausstieg und 2012 die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetz zur Vergütung von Photovoltaik beschloss. Moser, der Biologie, Geografie und Sozialwissenschaften studierte und zu kommunalem Klimaschutz und Erneuerbaren Energien promovierte, spricht schnell und benutzt viele Abkürzungen: zum Beispiel „PV“ statt Photovoltaik. Man merkt, dass er im Thema steckt. Schon lange.
2007 hat er das Projekt 100ee Regionen ins Leben gerufen. Das Kürzel steht für „Entwicklungsperspektiven für nachhaltige 100%-Erneuerbare-Energie-Regionen in Deutschland“. 100ee unterstützt Regionen, die die Energiewende selbst in die Hand nehmen wollen, statt auf den großen politischen Umbruch zu warten. Dezentral, selbständig, praktisch. Teilnahmewillige Kommunen legen ein Konzept vor, wie sie die Umstellung auf regenerative Energien bewerkstelligen wollen. Ist es überzeugend, werden sie ins Programm aufgenommen und erhalten den Status einer 100ee Region. Dazu gehört es, bereits ein paar Maßnahmen umgesetzt zu haben. Ist eine Gemeinde energiewendetechnisch noch ein weißes Blatt, kann sie erst einmal zur Starterregion werden und später aufsteigen. Manchmal rufe ihn ein Bürgermeister oder Gemeinderat an, erklärt Moser, und erzähle, dass man etwas für die Energiewende tun wolle, aber nicht wisse, wo anfangen. In diesem Fall bietet 100ee Regionen erst einmal ein Beratungsgespräch an.
Den strengen Lehrmeister spielt die Initiative dabei nicht, denn die 100 Prozent sind eher Vision als Verpflichtung. Manche Regionen übertreffen die Zahl aber sogar, zumindest, was die Stromerzeugung betrifft. So wie das Aller-Leine-Tal in Nordostniedersachen, das mittlerweile Energie exportiert. Bereits 2001 taten sich hier 61 private Gesellschafter – Handwerkerinnen, Landwirte, Lehrerinnen, Pastoren – aus acht Gemeinden zusammen um das Bürgerwindrad „Alwine“ zu errichten. Bei 100ee Regionen hat die Initiative mittlerweile Vorzeigecharakter; auch, weil „Alwine“ gewachsen ist: 2012 wurde das Windrad „repowert“, mit dem sich heute die ganze Region identifiziert. Wer kein Geld für „Alwine“ beisteuert, gestaltet sie auf andere Weise mit – wie beispielsweise die Schüler einer Kunstschulklasse aus Schwarmstedt, die „Alwine“ 2014 bunt bemalten. Das Aller-Leine-Tal setzt aber nicht nur auf Windkraft. In den letzten Jahren stattete man mehrere Kindergärten der Region mit Photovoltaik aus; auch, um Bürger zur Nachahmung anzuregen – erfolgreich. „Aus Beispielprojekten ist eine Welle geworden“, erklärt Stefan Dreesmann, langjähriger Umweltaktivist, Agraringenieur und Gemeinderatsmitglied in Gilten, einer der beteiligten Kommunen im Tal.
Geld gibt es keines für die Teilnahme am Programm 100ee Regionen, dafür aber jede Menge wertvolles Knowhow. Auch darüber, welche Fördertöpfe es gibt. Außerdem sorgt der 100ee-Status natürlich für Publicity. Dem Aller-Leine-Tal bescherte die Mitgliedschaft im Netzwerk 2014 sogar einen Besuch der New York Times. „Wir haben das erst für einen Witz gehalten“, erklärt Dreesmann lachend. Zwei Tage habe man den Journalisten die Projekte der Region vorgestellt, danach hätten sie verstanden, dass die Energiewende von unten kommt.
Von der Beratung und Vernetzung des 100ee-Programms profitieren auch Gemeinden, die keine eigenen Anlagen errichten können – so all die Großstädte, in denen Freiflächen Mangelware sind. Sie müssen verstärkt auf Einsparungen setzen, zum Beispiel durch energetische Gebäudesanierung oder Elektromobilität, und erhalten dann das Label 100ee urban. Diesen Weg geht beispielsweise seit 2012 die Stadt Frankfurt am Main. Andere Gemeinden setzen auf Bildung: So errichtete etwa die Gemeinde Saerbeck unter dem Namen „Saerbecker Einsichten“ eine gläserne Heizzentrale, die einerseits ein Nahwärmenetz versorgt und andererseits als Informationszentrum dient. Ausstiege aus dem Programm gebe es so gut wie nie: „Wenn das Thema Energiewende einmal auf der Agenda ist, wird man es nicht mehr los“, resümiert Moser.
Beinahe 150 Kommunen und Städte sind mittlerweile mit an Bord und trotz der Krise der Energiewende ist 100ee ein Erfolgsprojekt. Eines, in dem wie so oft die Bürokratie Sand ins Getriebe streute: Nach zweimaliger Förderung durch das Bundesumweltministerium war 2015 damit Schluss – die Statuten erlaubten keinen dritten Geldregen. Doch das (Wind-)Rad dreht sich weiter: Das 100ee-Netzwerk wird nun über das Projekt RegioTwin weiterfinanziert.
RegioTwin ist gewissermaßen die logische Weiterentwicklung der 100ee-Idee: Es vernetzt Gemeinden und Regionen, die sich zu Klimaschutz und erneuerbaren Energien austauschen wollen. Entweder, weil sie auf diesem Gebiet schon erfolgreich unterwegs sind und ihr Wissen weitergeben möchten oder – umgekehrt – nach Orientierung suchen. So wie das siegerländische Hilchenbach-Grund. Das Dorf möchte ein Elektroauto anschaffen und damit E-Carsharing betreiben. Dafür sucht die Gemeinde im Moment noch Sponsoren. Erfahrene Kommunen unterstützen sie dabei, zum Beispiel das hessische Schönstadt bei Marburg. Aber es geht nicht nur um Finanzielles, auch Überzeugungsarbeit muss geleistet werden. „Ein eigenes Auto zu haben ist hier auch ein Statussymbol“, erklärt Jörg Heiner Stein, Bürgerbeauftragter der Stadt Hilchenbach. Da hilft es natürlich, wenn man von erfolgreichen Initiativen aus anderen Gemeinden erzählen kann.
Obwohl 100ee Regionen sich weiterentwickelt: Die Grundidee bleibt. Auch in Zukunft können sich interessierte Regionen um die Auszeichnung als 100ee Region bewerben, betont Katharina Schenk; die junge Umweltwissenschaftlerin und ihre Mitstreiter Pia Buschmann und Sven Küster sind neben Peter Moser für 100ee Regionen tätig.
Der Funke aber, den die vier gezündet haben, fliegt weiter: durch das europaweite Projekt „100 % RES Communities“ beispielsweise. Und auch über den Ozean: In Nordamerika hat die weltumspannende Initiative „Go 100% Renewable Energy“ ihren Ursprung. Beiden Bewegungen hat 100ee Regionen sein über die Jahre gewonnenes Wissen darüber beigesteuert, wie man energiemäßig am besten „umstellen“ kann. Und sogar in Paris kam schlussendlich etwas davon an: „Go 100% Renewable Energy“ hat beim Klimagipfel auf sich aufmerksam gemacht. Also doch noch nicht alles Schnee von gestern, das mit der Energiewende.