Brauch’ ich das? Im Kapitalismus hängt alles am Konsum
Im Kapitalismus hängt alles am Konsum. Der ist mit der Corona-Pandemie in die Sinnkrise geraten. Hat die Wirtschaft, wie wir sie kennen, ihren Zenit überschritten?
Von Elisabeth Raether, Mark Schieritz und Bernd Ulrich
Plötzlich ist eine neue Aggression da, die den öffentlichen Raum vergiftet. Vordergründig geht es um die lockerste Lockerung, um die bittere Abwägung zwischen manifester Existenz (Leben und Tod) und metaphorischer Existenz (Jobs), um die Lernkurven von Virologen und um Versuch und Irrtum auf Seiten der Politik. Über all das könnte man ruhig, ernst und fair diskutieren und hat es ja auch für vier oder fünf Wochen. Woher aber dann plötzlich die neue Aggressivität?
Sie kommt aus der berechtigten Angst, dass unsere Wirtschaft nie wieder so sein wird wie vorher. Eine tiefsitzende Angst um den Kapitalismus, die Markwirtschaft, das Wachstum bahnt sich ihren Weg auf die Vorderbühnen der Republik. 800 Quadratmeter Ladenfläche? Fußball-Bundesliga? Daran wird es ausgetragen. Dabei ist es für die Zukunft des Kapitalismus im Allgemeinen und der deutschen Wirtschaft speziell ziemlich egal, ob dieses oder jenes zwei Wochen früher oder später wiedereröffnet wird. Lufthansa wird seine Flotte so oder so verkleinern müssen. Und dass die Kreuzschifffahrtindustrie mit ihren schwimmenden Virenschleudern noch mal auf die Füße kommt, glaubt eh kaum noch jemand. Nein, es geht nur scheinbar ums Detail, der Teufel steckt hier im Großen, er trägt Prada – oder eben nicht mehr. Der fehlende Konsum könnte den Kapitalismus töten, das ist die hinter vorgehaltener Hand geäußerte Sorge, die sich nun lauthals als Lockerungswut äußert.
Corona hat den Stillstand erzwungen, und der Stillstand hat zu bestimmten Erfahrungen geführt. Die kann man tabuisieren – und sie werden tabuisiert – aber man kann sie nicht mehr aus der Welt bringen. Leider oder Gott sei Dank? Das wird man sehen. Dies also sind die zwei fundamentalen Erfahrungen der Shutdown-Zeit: Zum einen vermissen die Menschen viele Dinge, die sie für normal gehalten haben. Umarmungen, Sorglosigkeit, Kitas und Bars, die eigenen Eltern. Zu anderen vermissen die Menschen viele Dinge kein bisschen, die sie für normal gehalten haben. Sie genießen, dass die Straßen leer sind. Das Leben in der Jogginghose, die Frisur rausgewachsen, aber niemanden stört es. Endlich kann man fast nichts verpassen, einfach weil fast nichts geschieht. Die Staatschefs der Welt in der Videokonferenz, can you hear me now? Die ganze Entprofessionalisierung und Privatisierung, immerzu läuft ein Kind durchs Bild und will was, ecce homo, der Kollege ist ein Mensch, das Private ist beruflich. Und was für einen Wochentag haben wir heute?
So bin ich und so bist Du, wenn wir nicht rennen
Jetzt machen die Geschäfte wieder auf. Die Wirtschaft wird aus der Narkose geholt. Es gibt wieder Rabattaktionen und belebte Fußgängerzonen. Der Alltag, wenn auch ein neuer, mit Mundschutz und viel Unsicherheit, sucht sich seinen Weg. Doch ein Gedanke ist nun da, der nicht mehr so schnell verschwindet – beziehungsweise handelt es sich nicht einmal um einen Gedanken, sondern einfach um ein Erlebnis: So sieht die Welt also aus, wenn sich alles aufs Wesentliche reduziert, nur das Nötige gekauft wird, so bin ich und so bist Du, wenn wir nicht rennen.
Offenbar ist auch etwas reizvoll am Weniger. Selbstverständlich nur für diejenigen, die mehr Geld haben, als sie für das Nötigste brauchen. Verzicht ist allein für diejenigen eine kulturelle und ökonomische Alternative, die etwas zum Verzichten haben. Zufällig sind das jedoch auch diejenigen, die den Kapitalismus von der Nachfrageseite her am Laufen halten. Ohne ihre Kauflust, ohne ihre ständige Bereitschaft, so viel zu konsumieren, wie sie eben können, wird es heikel. Wer nur seine Grundbedürfnisse stillt, darf dabei sein, ist aber im Grunde ökonomisch egal. Die Wirtschaft verlässt sich voll und ganz auf diejenigen, die Überflüssiges kaufen.
Aber die haben in den vergangenen Wochen offenbar gar nicht darauf gewartet, wieder in die Fußgängerzone zu dürfen. Die Rabattaktionen werden nicht angenommen. Das Konsumklima ist in Deutschland auf einen historischen Tiefpunkt abgestürzt, sagt das Marktforschungsinstitut Gesellschaft für Konsumforschung. Die sogenannte Anschaffungsneigung der Verbraucher befinde sich im freien Fall. Die Gedanken scheinen woanders zu sein. Nicht zuletzt natürlich wegen Kurzarbeit und drohender Arbeitslosigkeit. Das ist eine naheliegende Erklärung. Aber was, wenn viele “Verbraucher”, also die Menschen, die gerade versuchen zu verstehen, was um sie herum passiert, gar nicht zu viel Angst haben, sondern einfach zu wenig Lust, Kauflust? Das Geld wäre durchaus da, die Sparquote ist derzeit hoch. Aber offenbar verspüren überraschend wenige den Drang, die verpassten Gelegenheiten der vergangenen Wochen nachzuholen.
Es könnte an dieser Zwangskatharsis liegen, zu der nun die meisten verdonnert oder eben begnadigt sind. Alle Gewohnheiten sind mit Ausbruch der Seuche von heute auf morgen verschwunden, das Händeschütteln, das Herumreisen, die ganzen Termine und Verabredungen, die gerade noch so dringend schienen. Plötzlich gab es keine Normalität mehr, kein “Das habe ich schon immer so gemacht”. Das Kaufen unnötiger Gegenstände war ja von jeher ein mystischer Akt und deshalb auch etwas fragil, kein natürlicher Impuls, sondern ein produziertes Bedürfnis, eigentlich nur möglich, solange es eben alle anderen auch taten und solange man nicht groß darüber nachdachte. Oder das Denken der Werbung überließ, die zwar jeweils nur zu einem Produkt verführen will, in der Summe aber fürs Konsumieren als solches wirbt, die täglich, sekündlich einen ökonomischen Phantomschmerz erzeugt. In dieser einzigartigen Krise tritt nun das Gemachte am Gewohnten hervor, man schaut sich gewissermaßen selbst ins Hirn. Und staunt.