Die Corona-Krise könnte unsere Prioritäten ändern (Vera King und Hartmut Rosa)
Die Soziologen Hartmut Rosa und Vera King über die Lehren, die wir aus der Corona Krise ziehen können.
In den letzten Wochen hat sich für viele Menschen etwas Einzigartiges vollzogen: Wie von Geisterhand haben sich ihre Terminkalender geleert. Geschäftstermine, Reisen, Familienfeiern und Veranstaltungen wurden abgesagt. Auch wenn dabei für manche Berufsgruppen und für viele Eltern ganz neuer Stress entstand, noch dazu überlagert von existenziellen gesundheitlichen und ökonomischen Ängsten, bedeutet dies doch einen tiefen kulturellen Einschnitt in die Erfahrungswelt der Spätmoderne: einen Einschnitt, indem sich der Blick auf das, was wichtig und von Bedeutung ist, teils radikal verschoben hat.
Denn Covid-19 hat etablierte Handlungsroutinen an vielen Stellen unterbrochen und ein Innehalten erzwungen. Die Krise hat die explodierenden To-do-Listen, deren verzweifeltes Abarbeiten den Alltag der meisten Menschen bestimmt, zwar teils ins Digitale verschoben, aber doch auch vorübergehend entrümpelt und die Frage nach dem Unterschied zwischen dem wirklich Wichtigen und dem nur Dringlichenaufgeworfen.
In der Corona-Krise zum Innehalten gezwungen
Das ist bemerkenswert, weil Dringlichkeiten den Takt im spätmodernen Alltag jenseits der Krise immer stärker vorgeben. Wettbewerbsdruck und der Zwang zu Beschleunigung und Effizienzsteigerung verändern nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch den Familienalltag und die individuelle Lebensführung. Weshalb aber gewinnen im Umgang mit der Zeit Kriterien der Effizienz und „Rendite“ selbst in „privaten“ Bereichen, die vom ökonomischen Druck entlastet scheinen, so durchschlagend an Bedeutung?
In unseren Forschungsprojekten zeigt sich, dass das, was soziologisch als erzwungene Anpassung an systemische Steigerungs-Imperative beschrieben werden kann, keineswegs immer nur als leidvoll erlebt wird. So beschreibt etwa der 35-jährige Angestellte Paul S. auf die Frage nach seiner Zeitgestaltung einen inneren Zwiespalt: „Ich habe auch dieses Jahr, wie jedes Jahr, den Entschluss gefasst, mehr Freizeit zu haben, merke aber auch, wie schnell dieser Vorsatz kippen kann: Wenn ich mir noch so fest vornehme, diesen Samstag halte ich mir frei und treffe mich mit einer Freundin, dann hält das so lange, bis ich gefragt werde, ob ich am Samstag nicht was machen kann, und obwohl ich genau weiß, ich will nicht, höre ich im gleichen Moment, wie ich sage: Ja klar, mache ich.“
Hartmut Rosa und Vera King über die Welt nach Corona
Solche Erfahrungen dürften auch vielen Leserinnen und Lesern gut bekannt sein: ein Lebensalltag, bei dem Dringlichkeiten den Takt und die Entscheidung vorgeben. Aus soziologischer Perspektive drückt sich darin eine Folge der Veränderung gesellschaftlicher Zeitregime aus. Diese Veränderung lässt sich unter den Oberbegriff der Beschleunigung bringen, die wiederum eine unabweisbare Konsequenz dessen ist, dass moderne kapitalistische Gesellschaften sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen. Das bedeutet, dass sie unaufhörlich wachsen, innovieren und eben beschleunigen müssen, um ihre institutionelle Struktur – die Arbeitsplätze, das Gesundheits- und Rentensystem, den Kulturbetrieb und so weiter – aufrechtzuerhalten.
Im Zuge der ökonomischen, technischen und politischen Veränderungen der neoliberalen Globalisierung, welche die so erzeugten Steigerungs-Imperative umsetzte, nahmen die Prozess-, Kommunikations- und Informationsgeschwindigkeiten noch einmal rasant zu. Die kleinsten zeitlichen Unterschiede wiegen schwer im Wettbewerb. Dies befördert entgrenzte Arbeitszeiten, wenn Beschäftigte kurzfristig verfügbar sein sollen.
Die Bedeutung von Zeit in der Corona-Krise: Hartmut Rosa und Vera King
Paul stellt fest, dass er im Grunde die ganze Woche im „Arbeitsmodus“ lebt, und ist damit nicht ganz einverstanden, aber auch nicht wirklich unglücklich: Die Arbeit sei eben doch das, was ihn am meisten befriedige. Es sind die anderen, die ihn manchmal an etwas erinnern, das anders sein könnte. Zeitrhythmen, die – wie das freie Wochenende – vielen gemeinsam sind, nehmen dann sukzessive ab. Es gilt, Optionen offenzuhalten und flexibel zu bleiben. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Muster der Lebensführung, die Gestaltung von Beziehungen, Selbst- und Körperbilder, das Verhältnis zur Welt; es färbt gleichsam abund wird von den Subjekten so internalisiert, dass es sich mit eigenen Antriebsimpulsen verbindet.
Dabei sind die sich wandelnden Muster der Lebensführung geprägt durch veränderte Produktions- und Arbeitsverhältnisse. Sie gehen überdies jedoch mit neuen Formen der Verinnerlichung von Machtverhältnissen einher. Gerade bei Individuen mit passförmigen biografischen oder psychischen Dispositionen verbinden sich die „von außen“ nahegelegten Steigerungs-Imperative und die gleichsam „von innen“ drängenden Bedürfnisse zu einer beständigen Optimierungsorientierung in nahezu allen für sie relevanten Lebensdimensionen. Die so erzeugten Veränderungen der Lebensführung haben weitere Folgen: Sie prägen die Art und Weise, wie soziale Beziehungen gestaltet und gelebt werden, und wirken sich nicht zuletzt auf die Entwicklungsbedingungen der Nachkommen aus.
Hartmut Rosa und Vera King: Aus der Corona-Krise lernen
Von besonderer kultureller Bedeutung scheint dabei eine unbemerkte, schleichende Umwertung der Werte zu sein, die sich als Nebenfolge der explodierenden To-do-Listen ergibt. Die alltägliche Agenda vieler Menschen wird nach der Dringlichkeit der zu erledigenden Aufgaben geordnet, nicht nach ihrer empfundenen Wichtigkeit. Dinge, die keine Frist oder „Deadline“ haben, aber als subjektiv wertvoll wahrgenommen werden – in Pauls Fall etwa das Treffen mit der Freundin –, bleiben dabei auf der Strecke, wie schon Niklas Luhmann beobachtete: „Aufgaben, die immer zu kurz kommen, müssen schließlich abgewertet werden […]. So kann sich allein aus Zeitproblemen eine Umstrukturierung der Wertordnung ergeben“, schlussfolgerte er. Das Dringliche gewinnt gegenüber dem Wichtigen also schleichend, aber wirkungsvoll an Bedeutung. Diese Verschiebung beinhaltet ein erhebliches Potenzial der Selbst-Entfremdung wie auch des Bedeutungsverlusts von sozialen Beziehungen.
Die Auswirkungen lassen sich auch in Familien beobachten. „Wenn wir unsere Termine erst einmal aufeinander abgestimmt haben, werden wir alle zusammen ein ganz entspanntes Essen machen“, diese typische Äußerung zitiert die Soziologin Arlie Hochschild in einer Studie aus den USA, bei der sie Beschäftigte einer Firma bei der Arbeit und im Familienalltag untersuchte. Das zunächst als wichtig Erachtete – gemeinsam verbrachte Zeit und Muße mit den Kindern – wurde aufgrund von dringlichen Anforderungen bei der Arbeit oft „vertagt“ und schließlich ‚vergessen‘.
Nach der Corona-Krise Prioritäten ändern
Gerade über das, was in der Familie gelebt wird, übersetzt sich sozialer Wandel dann aber in veränderte psychische Dispositionen der Folgegeneration. Ein Kernelement sorgender Beziehungen ist die „Gabe von Zeit“ und mit ihr die zweckfreie leibliche, mentale und emotionale Ko-Präsenz des Anderen; diese wird durch die Vorherrschaft von Dringlichkeit und Zeitknappheit erschwert.
Die Dominanz dieser Logik beruht nicht nur darauf, dass ein Ausstieg lediglich um den Preis des Misserfolgs oder des Zurückfallens gegenüber anderen möglich ist. Ein Arbeitskontext, der von den Individuen „alles fordert“, kann auch die Hoffnung auf ersehnte umfassende Bestätigung nähren. Leistungssteigerung und Selbstoptimierung werden dann nicht einfach durch wettbewerbsbedingten äußeren Druck, sondern auch von der Verheißung angetrieben, über Begrenztheit und Vergänglichkeit zu triumphieren. Beschleunigung dient hier dem Ziel, Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu haben, um die kurze Lebenszeit der stets weiterreichenden Weltzeit anzupassen, wie Hans Blumenberg dies formulierte.
Hartmut Rosa und Vera King: Lektionen aus der Corona-Krise
Gerade dieses Motiv kann die Bereitschaft verstärken, sich dem Zeitdruck zu unterwerfen. Was aus soziologischer Perspektive als struktureller Zwang erscheint, wird dann als lustvoller „Kick“ erlebt, die Anforderungen der Dringlichkeiten zu meistern. Die Individuen erfahren es als innere Befriedigung, die eigene Leistungsfähigkeit oder den Köper immer weiter zu optimieren.
Wie bestimmend dieser Drang für die Lebensführung werden kann, zeigt sich am Beispiel des Ernährungsberaters Florian K., Mitte dreißig. Auch bei ihm erscheint das unmittelbar Dringliche immer wieder als dominant, während etwa Beziehungen eher störend wirken und schattenhaft bleiben. Er beschreibt sein Leben in den Formeln der Betriebswirtschaftslehre und der Sprache der Produkt- und Prozessoptimierung. Zeit ist dabei stets Thema und Ziel: „Daten sammeln, analysieren, Kennzahlen rausfinden, ins Verhältnis setzen, um eben daraus Rückschlüsse ziehen: Diese Prinzipien reizen mich und ich hab sie dann an vielen Stellen eins zu eins aufs Training und auf das Selbstmanagement übertragen.“ Deshalb habe er, ähnlich wie Paul S., letztlich keine Zeit für Beziehungen, für Freundschaften: „Aber ich habe deswegen auch kein Mangelgefühl oder bin jetzt deswegen traurig.“
Von Selbstoptimierung zum erzwungenen Innehalten in der Corona-Krise
In vielen Studien zu Erschöpfung oder Burnout werden Konstellationen betont, bei denen die Einzelnen hohen Anforderungen und Überforderungen passiv leidend ausgesetzt sind. Die Fälle von Paul und Florian verdeutlichen demgegenüber, dass Anpassung an die Logik der Dringlichkeiten und der Optimierung auch innere Befriedigung verspricht. Zeitverdichtete, entgrenzte Arbeits- und Projektwelten können gerade für Menschen, die psychosoziale Defizite durch erhöhte Ansprüche kompensieren, attraktiv sein und ihre psychischen Dispositionen verstärken.
Dabei entstehen neue, kollektiv bedeutsame Bewältigungs- und Abwehrmuster im Umgang mit Begrenztheit. Das Leben im Modus der Dringlichkeit und der Beschleunigung schafft neue Phantasmen der Befriedigung und des Umgangs mit Endlichkeit. Das äußere Zwangsmoment, dass bei Nichterfüllung drängender Aufgaben die Gefahr droht, zurückzufallen und ausgeschlossen zu werden, kann aus solchen Motivlagen heraus in bejahende Selbstdisziplinierung übersetzt werden. Es kann in eine psychische Anpassung an das Geforderte münden, die die Spuren des Zwangs nur noch in Fragmenten, in Selbsttäuschungen, scheinbar unerklärlichen Erschöpfungen oder Beziehungsarmut sichtbar werden lässt.
Hartmut Rosa und Vera King: Vom Dringlichen zum Wichtigen in der Corona-Krise
Vielleicht lässt sich die gegenwärtige Stillstellung der materiellen und physischen Bewegung in vielen sozialen Bereichen als eine Art Moratorium nutzen, um über die Schieflage im Verhältnis von Wichtigem und Dringlichem nachzudenken. Sie lässt sich nicht einfach durch eine Korrektur der Lebensführung beheben, weil sie systemische Ursachen hat. Aber auch auf der Systemebene zwingt Corona gerade dazu, die wirklich wichtigen Bereiche des öffentlichen Lebens von den nur dringlichen zu trennen.
Angesichts der problematischen Steigerungslogik der Spätmoderne sollte dabei nicht System-, sondern „Lebensrelevanz“ das Kriterium sein. Die Analyse der systemischen Dringlichkeits- und Optimierungszwänge verdeutlicht: Es sollte nicht einfach um „Exit“ aus dem „Lockdown“ und rasche Rückkehr zur Normalität gehen – vielmehr wäre ein systemischer Wandel zugunsten des Wichtigenangezeigt.