Ein Rad aus Köln bewegt die Masse
Kasimir sieht gut aus und hat drei Räder. Auf seiner Vorderachse ist eine Kiste montiert, in die sogar Waschmaschinen passen. Kasimir kann man ausleihen und zwar kostenlos. Die Kölner Initiative wielebenwir hinter dem hübschen Lastenrad gilt mittlerweile als Vorbild für Verleihprojekte im deutschsprachigen Raum.
Ursprünglich auf futurzwei.org gepostet
„Es ist schön, wenn man mit dem Fahrrad durch die Stadt fährt und die Leute einen grüßen, weil sie Kasimir kennen“, erzählt Elise Scheibler und lacht dabei. Die junge Frau ist Ende 20 und trägt ihre kurzen dunklen Haare locker zusammengebunden. Sie kommt ursprünglich aus dem Allgäu und hat in Köln Regionalwissenschaften Lateinamerika studiert. Nach dem Studium zog es die meisten ihrer Kommilitonen zur Entwicklungszusammenarbeit nach Übersee, aber Scheibler blieb in Deutschland. Sie ahnte, dass hier genug zu tun sein würde.
Elise Scheibler ist eine von sieben Freunden, die den Verein wielebenwir gegründet haben. wielebenwir möchte Köln zu einer nachhaltigeren, lebenswerteren Stadt machen; Kasimir ist ihr bislang bekanntestes Projekt. Im August 2012 lasen sie davon, dass ein Tauschring in Berlin-Neukölln Interessenten ein Lastenrad zur Verfügung stellt. Das Rad hieß Gerd. Man konnte es nicht ertauschen, aber regelmäßig ausleihen. Was für eine schöne Idee, dachten sich die Sieben. Gerade für Menschen ohne Auto oder gar ohne Führerschein lohne sich ein Lastenrad. Es wäre schön, so ein Gefährt auch in Köln kostenlos zu verleihen.
Über den Winter schmiedeten sie genauere Pläne und gleich im Frühling 2013 wurde ein Lastenrad für Köln gekauft; Sponsor war der KlimaKreis Köln, der kleinere Projekte zum Thema Klima- und Umweltschutz unterstützt. Inspiriert vom Berliner Gerd beschloss man, dem Fahrrad ebenfalls einen Namen zu geben – nicht zuletzt, um ihm durch diese Personifizierung mehr Wert und Bedeutung zu verleihen. Gerd stand also Pate für Kasimir, doch was in Berlin innerhalb eines Tauschrings angeboten wurde, sollte in Köln zu einem ausgereiften und einzigartigen Konzept heranwachsen.
Schnell war den Kölner Machern klar, dass sie nicht einfach eine feste Ausleihstation betreiben wollten wie der Tauschring oder ein klassischer Verleihbetrieb. Vielmehr ging es ihnen darum, Kasimir in das Leben der Stadt zu integrieren, über das Lastenrad neue soziale Kreise zu erschließen und die Stadt besser kennenzulernen. Daher wollten sie ein Netzwerk aus Kooperationspartnern aufbauen, die Kasimir unterstützen würden.
So entwickelten die Mobilitäts- und Grafikdesigner im Kasimir-Team ein raffiniertes Ausleihsystem: Über die Kasimir-Website kann sich die interessierte Nutzerin nun einloggen. Auf einem Monatsplan sieht sie dann, an welchen Tagen Kasimir frei ist und an welcher Station das Lastenrad gerade steht; die Stationen, das können Cafés, Vereine, Bürgerzentren, Geschäfte oder private Räumlichkeiten sein. Mit einem per Mail vermittelten Codewort lässt sich Kasimir an einer der Stationen abholen; für bis zu drei Tage steht er dann zur Verfügung. Bisher gibt es tatsächlich nur einen Kasimir; das Lastenrad ist ein Stadtnomade, der durch Köln wandert, von Station zu Station. Gesehen ist er überall gern.
Elise Scheibler erinnert sich: „Obwohl wir nicht viel Werbung gemacht haben, sind viele Leute auf uns zugekommen und haben einen Standort für Kasimir zur Verfügung gestellt. Am Anfang haben wir nur minimale Akquise betrieben, dann wurde es zum Selbstläufer.“
Trotzdem gab es zunächst einige Probleme. Es erwies sich als recht aufwendig, überhaupt ein geeignetes Fahrrad zu finden. Denn Kasimir sollte mit einigen besonderen Details ausgestattet sein, etwa einer Rückbank mit Anschnallgurten, auf der Kinder sitzen können. Scheibler berichtet von der schwierigen Kommunikation mit den Herstellern, und als Kasimir endlich geliefert wurde, musste das Team verschiedene Herstellungsfehler feststellen. „Wir hatten dieses Fahrrad gewählt, da es ein deutscher Hersteller war. Wir wollten es nicht von weit her liefern lassen“, erklärt Scheibler. „Wir waren sehr enttäuscht, von der Qualität und vom Service. Die ersten drei Monate hatten wir ständig irgendwelche Reparaturen.“ Ein handwerklich versierter Freund half ihnen schließlich aus dem Schlamassel, reparierte die Mängel und baute die fehlenden Teile an. Heute braucht Kasimir nur noch einen kleinen monatlichen Check – größere Reparaturen sind selten geworden.
Kasimir gewann schnell die Sympathie der Kölner. Im März 2013 zum ersten Mal entliehen, war das Lastenrad schon im Sommer „ziemlich schnell total ausgebucht“, freut sich Elise Scheibler. Genutzt wird Kasimir von Kleinfamilien, die ihre Kinder darin kutschieren, von Studenten, die ihren Umzug machen, von Musikcrews, die das Fahrrad bei Konzerten im Park als Mischpult nutzen, oder von Leuten, die ihren Geburtstag am Rhein feiern und dazu ein Fässchen Kölsch verladen. Mittlerweile kennen die Kölner „ihren Kasimir“, vor allem in Szenevierteln wie Ehrenfeld oder der Südstadt ist das Lastenrad prominent.
Die Kölner Variante des Lastenradverleihens hat inzwischen Vorbildcharakter für ähnliche Projekte in ganz Deutschland und Österreich. Initiativen in Dortmund, München und Graz wurden von Kasimir beeinflusst und baten wielebenwir um Beratung – zuletzt fragte ein Projekt aus Salzburg an, das sich noch in der Entstehungsphase befindet.
Genau dort sehen sich die Initiatoren des Kasimir-Projekts: als Ideengeber, die das Konzept weitertragen, die Strukturen schaffen, koordinieren, organisieren und neue Initiativen beraten. Dafür haben sie ein Portal im Internet eingerichtet, auf dem sich Gruppen informieren und austauschen können. Derzeit ist eine Open-Source-Buchungssoftware in Planung. Elise Scheibler meint: „Unser jetziges System funktioniert zwar gut, ist aber nicht so leicht übertragbar. Wir möchten ein Tool entwerfen, das wir problemlos verteilen können. Denn oft ist der Knackpunkt für die Umsetzung anderer Lastenrad-Ausleihprojekte die Software.“ Anfang 2015 soll es soweit sein; in anderen Städten sitzen schon einige wie auf heißen Kohlen und wollen endlich loslegen.
Elise Scheibler und ihre Mitstreiter wollen das Kasimir-Projekt künftig um Lastenradmodelle erweitern, die auch professionell genutzt werden können. Etwa ein größeres Lastenrad, das mit einem Elektromotor unterstützt wird, um sperrige und schwere Güter für Handwerks- und Kleinbetriebe zu transportieren. Oder ein Lastenrad mit großer Transportfläche für Kleinküchen, Saftpressen oder fahrende Händler. Auch in der erträumten Flotte dabei: ein Rollstuhllastenrad, um Menschen in Rollstühlen zu kutschieren. Wozu brauchte man einst Lastautos?