Mut zur Lücke
Ein Verein junger Gestalter*innen findet Platz, wo auf den ersten Blick keiner zu sein scheint. Dort schaffen sie Orte der Begegnung, des Erlebens und des Austauschs und transformieren die Strukturen ihrer Heimatstadt.
Stuttgart. Eine eingekesselte Stadt in Baden-Württemberg mit fraglichem Ruf. Deutschlandweit der meiste Stau, der die Luft verpestet, ein Bahnhof, der umstrittener kaum sein könnte (Stuttgart21), Mietpreise, die durch die Decke gehen, Wohnraumknappheit, kein Platz. Dieses Bild dominierte zumindest vor einigen Jahren in der Öffentlichkeit. „Komplett privatisiert“ sei die Stadt gewesen, sagt Hanna, „es gab gefühlt keine Möglichkeit zum Gestalten.“ Seitdem hat sich das Aussehen von Stuttgart deutlich verschönert. Und daran war Hanna maßgeblich beteiligt. Im Rahmen ihrer Masterarbeit setzten die Architektur-Studentin und ihr Kommilitone Sebastian sich vor etwa fünf Jahren mit Urban Commons auseinander, also Gemeinschaftsflächen im Stadtraum. Wo kann man diese in einer so zugebauten Stadt schaffen? Wie können junge Menschen ohne großes finanzielles Budget sich in die Stadtgestaltung einbringen? Und sie fanden Platz. Wenn auch im übertragenen Sinne.
Denn Baulücken, preislich erschwingliche zumindest, offenbarten sich den beiden Studierenden bei ihrer Recherche kaum. Stattdessen fanden sie Zeitlücken, Wissenslücken, Kommunikationslücken und dergleichen mehr. In einem offenen Diskursformat luden Hanna und Sebastian andere Interessierte monatlich zum „Lücken sammeln“ ein. Der Andrang war groß, was angesichts der insgesamt drei Architekturfakultäten in Stuttgart nicht überraschte. Auch Sarah studierte an einer dieser drei Fakultäten und nahm damals an den Diskussionsrunden teil. „In den Gesprächen hat sich schnell eine Mutterlücke rauskristallisiert“, erinnert sich die ehemalige Studentin. Diese Lücke, die immer wieder genannt wurde, war der Österreichische Platz.
Wie eine Lücke wirkt der Platz erst mal gar nicht, er ist riesig und zentral, Knotenpunkt zwischen Zentrum und südlichem Teil der Stadt. Überdacht ist er von zwei Hauptverkehrsstraßen, gerahmt von einer katholischen Kirche und dem Gebäude einer großen Versicherung, außerdem Treffpunkt vieler Obdachloser. „Ein spannender Ort, sehr aktiv und hybrid“, erzählt Sarah. Und doch klaffte dort vor einigen Jahren noch eine Wissens- und Kommunikationslücke. „Jeder kannte die gleichnamige U-Bahn-Station. Aber niemand kannte den Platz selbst“, sagt Hanna. Das mag daran liegen, dass der Österreichische Platz zwar der Stadt gehört, aber über dreißig Jahre lang an eine Parkplatzfirma verpachtet wurde. Lediglich eine kleine freie Fläche blieb neben dem Parkplatz. Eine Lücke, von der aus Hanna, Sarah, Sebastian und das Kollektiv begannen, das Stadtgeschehen aufzumischen. Der gemeinnützige Verein Stadtlücken wurde geboren.
Ziel des Vereins ist es nicht etwa, Lücken zu füllen. Die Stadt sei ohnehin schon eng genug. Ganz im Gegenteil geht es den Aktiven um die Öffnung der gefundenen Lücken. Diese also sichtbar und den ungenutzten Raum für Menschen und deren Bedürfnisse zugänglich und nutzbar zu machen, wie es auf der Website des Vereins heißt. „Wir sehen darin die Chance, für gemeinsamen Raum und für das Recht auf Stadt ein Bewusstsein zu schaffen“, schreiben sie. Das versucht das Team auf eine zugängliche Art zu machen, mit witzigen Ideen, Irritationen – und vor allem mit ansprechendem Design.
„Gestaltung hat was mit Wertschätzung zu tun“, sagt Hanna. Und Sarah ergänzt: „Es braucht sorgfältiges Design von Prozessen, um Interesse zu wecken. Einfach Ikea-Möbel in den öffentlichen Raum zu stellen und sich dann hinzusetzen, reicht nicht.“ Um die Aufmerksamkeit der Stadtbewohnenden auf den Österreichischen Platz zu lenken, entwarfen und bauten die jungen Gestalter*innen beispielsweise einen Souvenirshop. Fortan halfen liebevoll gestaltete Andenken wie Schals, Jutebeutel und Bierdeckel Stuttgarter*innen dabei, sich an einen Ort zu erinnern, den die meisten von ihnen zuvor nicht gekannt hatten.
Anders als in üblichen Souvenirshops wurden die Erinnerungsstücke nicht verkauft, sondern wanderten gegen eine freiwillige Spende über die Theke. Alle Aktionen von Stadtlücken sind grundsätzlich kostenlos, damit sie so vielen Menschen wie möglich zugänglich sind. Eine weitere Devise des Vereins: Nie zu Ende designen, sondern Prozesse offen lassen. So lagen beim Souvenirshop auch Ideenkarten aus. „Was könnte hier besser sein?“, stand darauf und eine Sammlung von Verbesserungsvorschlägen für den Österreichischen Platz, über die man vor Ort und online abstimmen konnte. Innerhalb weniger Tage wurde 12.000 Mal abgestimmt, am Ende machte ein Skatepark das Rennen.
Auch darüber hinaus waren und sind alle eingeladen, sich einzubringen. „Wir haben Fläche und Strom. Wer hat Bock was zu machen?“, fasst Hanna die Herangehensweise des Vereins zusammen. In den zwei Wochen, die Stadtlücken zunächst auf dem Österreichischen Platz vor Ort war, wurden Lichtshows und Kräuterführungen veranstaltet, Schüler vom benachbarten Gymnasium kuratierten eigens eine Ausstellung. Und mit den Mitgliedern der katholischen St. Maria-Kirche, die den Aktiven Kaffee vorbeibrachten, ergab sich gleich die nächste Kooperation.
Während zwei Wochen im folgenden Jahr wurden die Räumlichkeiten des Gotteshauses zur Kulisse eines kunterbunten Programms. Ein Trampolin wurde dort aufgebaut, ein DJ legte Tunes auf, es wurde Tango getanzt. Alles nacheinander, versteht sich. „Natürlich fanden auch Gottesdienste statt“, sagt Sarah. „Aber die waren interaktiv gestaltet, mit einem Runden Tisch, an dem die Zukunft der St. Maria-Kirche diskutiert wurde.“
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„Was passiert hier“ auf dem Österreichischen Platz in Stuttgart? -
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Souvenirs kaufen konnte man zum Beispiel. -
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Oder gemeinsam speisen – Prä-Corona. -
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Freiraum fanden die Stadtlücken auch in der St.-Maria-Kirche. -
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Wer keine Lust auf reden hatte, konnte stattdessen Trampolin springen. -
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Auch auf dem Österreichischen Platz kann man sich auspowern – an der ersten öffentlichen Bouldergelegenheit in Stuttgart-Mitte. -
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Um anschließend wieder die Muße zum Reden zu haben. Beim Format „Einmal im Monat – wem gehört die Stadt?“. Hier am Ufer des Neckars.
Immer wieder möchten die Stadtlücken Menschen einladen, sich als Teil des Öffentlichen Raumes zu verstehen und sich in dessen Gestaltung einzubringen. Ein Konzept, das funktioniert und begeistert, auch über die Stadtgrenzen hinaus. So habe die Aktion in der St.-Maria-Kirche zum Beispiel in der gesamten katholischen Gemeinde Süddeutschlands positive Resonanz erfahren. Und auch mit ähnlichen Projekten vernetzen die jungen Gestalterinnen und Aktivisten sich fleißig, Hanna und Sarah nennen das Platzprojekt in Hannover und das Kollektiv Raumstation mit Sitzen in Weimar, Berlin und Wien. Aber zurück nach Stuttgart. Dort, in seiner Heimat, hat der junge Verein schon ordentlich aufgeräumt mit den verstaubten Strukturen der verspekulierten Stadt.
Wie sehr, das sieht man auf den ersten Blick nicht unbedingt. Betritt man den Österreichischen Platz heute, ist von dem wuseligen Experimentierfeld, das den Platz immerhin eineinhalb Jahre mit Leben füllte, nicht mehr viel zu sehen. Ende 2019 war das Experimentieren vorerst beendet, es bleiben zwei Tischtennisplatten und die erste öffentliche Bouldergelegenheit in Stuttgart-Mitte. Ein eher ruhigerer Ort, der neue Ösi. Aber hinter den Kulissen geht es seitdem rund. Ein „Amt für Öffentlichen Raum“ soll auf dem Österreichischen Platz entstehen, über eine Million Euro Fördergelder haben die Stadtlücken für die (Weiter-)Entwicklung ihres Gesamtprojektes erhalten. „Wir sind im Mainstream der Stadtplanung angekommen“, sagt Sarah mit einem Grinsen. In einer einjährigen Pause werden nun Strukturen für diese „Interessensvertretung für öffentlichen Stadtraum“ erarbeitet. Teilweise seien das ganz schön langwierige Prozesse, sagt Hanna. Aber langweilig wird den Gestaltenden des Öffentlichen Raums dabei nicht – die nächste Lücke ist schon gefunden, mitten im Fluss diesmal. Auf der Neckarinsel („Ja, tatsächlich hat Stuttgart einen Fluss!“) wird im Rahmen des Diskussionsformats „Einmal im Monat – Wem gehört die Stadt?“ unter anderem darüber diskutiert, wem der Fluss gehört, wem er gehören sollte und wie man seine Ufer als Möglichkeitsräume nutzen kann. Während Corona finden die Veranstaltungen online auf Zoom statt. Eingeladen sind dazu – natürlich – alle.