Besser tröten statt tweeten
Es gibt Alternativen zu gängigen sozialen Netzwerken. Mastodon, ein Microbloggingdienst, ist eine davon. Hinter dieser steht weitaus mehr, als auf Anhieb zu erkennen ist: null Profitinteresse, mehr Wahlmöglichkeiten und vollständige Transparenz.
Gemina Picht 28.07.2021
Diese Geschichte beginnt mit einem von der Decke baumelnden, grauen Elefanten. Er steht Kopf und sieht dabei recht zufrieden aus. Okay, streng genommen ist es kein Elefant, sondern ein Mastodon – also ein nordamerikanisches, ausgestorbenes Rüsseltier, der Gattung der Mammuts zugehörig. Und es baumelt auch an keiner echten Decke, sondern vom oberen Rand der gleichnamigen Mastodon-Website. Dort hängend scheint es, als würde es freundlich dazu ermutigen, sich bei diesem twitterähnlichen, sozialen Netzwerk zu registrieren.
Meldet man sich an und taucht in die Mastodon-Welt ein, wird schnell deutlich: Hier steht wirklich einiges Kopf – im positiven Sinne. Die Verhältnisse scheinen umgekehrt im Vergleich zu den herkömmlichen sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram und Twitter. Die sind aufgrund überwachungskapitalistischer und datenextrahierender Praktiken weit nicht so sozial, wie sie es Anfang der 2000er Jahre sein wollten. Auf den ersten Blick ist das 2016 von Eugen Rochko, einem deutschen Programmierer, ins Leben gerufene soziale Netzwerk Mastodon dem von Twitter sehr ähnlich. Es können Kurznachrichten gepostet werden – hier in Form von Tröts anstelle von Tweets – es gibt Hashtags, die anzeigen, über welche Themen gerade besonders viel gesprochen wird und Personen und Organisationen können in den Beiträgen erwähnt werden. Und doch ist Mastodon ganz anders. Denn hinter der Benutzeroberfläche stehen völlig andere Prinzipien zur Gestaltung sozialer Netzwerke, oder, noch größer gedacht, des gesamten Internets.
Mastodon gehört nicht zu einem Unternehmen mit eigenen Profitinteressen und unterliegt somit nicht den überwachungskapitalistischen Zwängen der Datensammlung für Werbezwecke. Bei Mastodon geht es stattdessen um die Ursprungsidee sozialer Netzwerke: Die weltweite virtuelle Verbindung von Menschen. Das Netzwerk ist komplett werbefrei und die Daten der Nutzer*innen werden nicht zur unternehmerischen Profitmaximierung verwendet.
Auch in der technischen Gestaltung ist Mastodon freier – denn es ist dezentral gestaltet. Damit begegnet es dem Problem, dass herkömmliche soziale Netzwerke ihre Regeln und Nutzungsbedingungen gnadenlos durchsetzen können. Und zwar so renitent, dass die Nutzer*innen dem Zwang unterliegen, sich entweder zu fügen – und damit beispielsweise jegliche Eigentumsrechte an ihren geposteten Inhalten verlieren – oder eben in Gänze auf die Benutzung der Plattform verzichten müssten. Für Mastodon-Nutzer*innen bedeutet das mehr Wahlfreiheit und weniger Abhängigkeit von Unternehmensinteressen.
Ein dezentrales Netzwerk kann man sich in etwa so vorstellen: Während bei Twitter alle Menschen auf einer Insel hocken und Twitter vollständig darüber entscheidet, welche Regeln auf dieser Insel gelten sollen, gibt es bei Mastodon ganz viele verschiedene, miteinander verbundene Inseln, die nicht einem Unternehmen gehören, sondern jeweils von Administrator*innen betreut und gepflegt werden. Diese Personen sind allen Benutzer*innen namentlich bekannt. Auf jeder Insel gelten eigene Regeln, die von den Administrator*innen aufgestellt werden – zum Beispiel, dass Hasskommentare und die Verwendung diskriminierender Sprache untersagt sind. Verstößt jemand gegen die Regeln und wird von anderen Nutzer*innen gemeldet, kann der Störenfried von den Administrator*innen ausgeschlossen werden. Einen solchen Mechanismus, basierend auf direkter sozialer Kontrolle und konkreten Ansprechpartner*innen, gibt es bei keinem der herkömmlichen sozialen Medien. Die verheerende Kehrseite der fehlenden Moderation wird heutzutage z.B. in Form von dehumanisierenden Hassbewegungen im Netz deutlich.
Der Clou an dieser Dezentralität: Mastodon-Nutzende können sich ihre Insel auswählen. Sie wählen die, die am besten zu ihren Interessen und Wertvorstellungen passt und können gleichzeitig mit allen Personen auf anderen Inseln – bei Mastodon Instanzen genannt – interagieren. So kombiniert das Rüsseltier-Netzwerk Wahlfreiheit und globale Vernetzung.
Auch im Hinblick auf den verwendeten Programm-Code und die Nachvollziehbarkeit des technischen Geschehens geht Mastodon andere Wege als die herkömmlichen Netzwerke. Statt auf Undurchsichtigkeit und Geheimhaltung, setzt es auf Transparenz. Es gibt keine uneinsehbaren Algorithmen, die z.B. nach unbekannten Regeln entscheiden, welche Inhalte in der Timeline erscheinen. Kein Algorithmus bestimmt, wessen Inhalte gezeigt werden und wessen unsichtbar bleiben, stattdessen sind die Timelines chronologisch geordnet. Dass bei Mastodon Transparenz großgeschrieben wird, zeigt auch der Umstand, dass der Quellcode offen einzusehen ist. Mastodon ist nämlich Open Source. Das ermöglicht nachzuvollziehen, wie Mastodon programmiert ist. Auch für Nutzer*innen, denen diese Informationen nichts sagen, ist die Offenlegung des Quellcodes zumindest ein Hinweis darauf, dass hier nicht nach Geheimhaltungslogik operiert wird, sondern dass das Programm verstanden und mitgestaltet werden kann.
Inzwischen umfasst Mastodon mehr als 4,4 Millionen Nutzer*innen, Tendenz steigend. Eine davon ist Jele Oppermann. Sie ist ausgebildete Informatikerin und Open-Source-Befürworterin. Seit ihrer Ausbildung in den 1990er Jahren beobachtet sie die Entwicklung des Internets genau und kritisch. Sie weiß, was mit Daten alles angestellt werden kann, und hütet deswegen aufmerksam ihre eigenen. Mastodon ist das erste soziale Netzwerk, bei dem sie angemeldet ist und ihre Nutzung verantworten kann. Obwohl sie den Gedanken des vernetzten Kontakts im Internet seit jeher gut findet, sind die Praktiken der herkömmlichen sozialen Medien in ihren Augen ein zu „unfaires Tauschgeschäft”, das sie bisher davon abgehalten hat, an ihnen zu partizipieren.
Wenn Oppermann über Mastodon spricht, wird schnell deutlich, dass der Benutzung einer anderen Art von sozialem Netzwerk auch eine andere Denkweise über digitale Technikanwendungen im Netz zugrunde liegt. Im Zentrum steht dabei die knallharte Abwägung von Nutzen und Kosten, also die Fragen: “Was bekomme ich für meine Daten? Steht das im Verhältnis zu dem, was ich gebe? Und ist das, was ich bekomme genug Bezahlung für das, was die dann wissen?” Bei den anderen sozialen Medien wie Twitter und Facebook ist ihre Antwort klar: „Völlig inakzeptabel, unverschämt und schlecht bezahlt.” Bei Mastodon ist das anders. Obwohl wie bei jeder Internetanwendung bei der Nutzung des Netzwerks auch Daten generiert werden, verdient Mastodon damit kein Geld. Mastodons Geschäftsmodell basiert nicht auf der Analyse und dem Verkauf von Daten; das Netzwerk wird durch freiwillige Beiträge der Nutzer*innen und Administrator*innen finanziert.
Völlig normal ist für Oppermann, dass die Miete der Server je Instanz Geld kostet. Dieses Geld muss irgendwoher kommen. Genauso normal ist für sie: Dieses Geld wird von der Gemeinschaft, die auf einer Instanz zusammenkommt, bezahlt. Das ist dann der persönliche Beitrag für die Miete der technischen Infrastruktur, damit ein unabhängiges, soziales Netzwerk wie Mastodon möglich ist. Der Betrag von Oppermann ist selbst gewählt und basiert auf folgender Rechnung: Das Anmieten der Server kostet die Administrator*innen ungefähr 648 Euro im Jahr. Oppermanns Mastodon Gemeinschaft umfasst zurzeit 200 Personen. Sie geht davon aus, dass mindestens 24 Personen der 200 Nutzer*innen einen monatlichen Beitrag bezahlen – also macht das für sie 27 Euro im Jahr. Wichtig ist ihr dabei stets: Keiner wird bei Mastodon gezwungen, einen Betrag zu spenden. Diejenigen, die können und wollen, machen es. Kann oder will jemand nicht, findet sie das völlig okay. Sollten die Administrator*innen die Serverkosten mit den Spenden nicht decken können, melden sie sich auf Mastodon zu Wort und fragen nach weiteren Spenden. So entsteht eine gemeinschaftlich finanzierte digitale Infrastruktur ohne Zwang.
Das klappt auch deshalb so gut, weil viele der heutigen Mastodon-Nutzer*innen mit eben diesen Grundsätzen von Open-Source Anwendungen vertraut sind. Laut Jele Oppermann sind heutzutage vor allem zwei Gruppen auf Mastodon unterwegs: die Open-Source-Erfahrenen und diejenigen, die an gemeinschaftlichen Formen des Wirtschaftens interessiert sind. Vereint sind alle im Glauben, dass eine andere Gestaltung von sozialen Netzwerken möglich ist. Und tatsächlich, Mastodon verdeutlicht exemplarisch, wie ein digitales Gerüst dafür aussehen könnte. Nun ist es Zeit, mehr Mitglieder zu gewinnen und das Gefäß mit Inhalten zu füllen.
Übrigens: Dass die Migration von einem Anbieter zu einem (besseren) gelingen kann, hat unlängst die große Nutzer*innenabwanderung von WhatsApp zur Open Source Messenger-App Signal gezeigt. Im Fall von Mastodon lautet das Credo dann: besser tröten, statt twittern. Also: Auf ein lautes, gemeinsames „Tröööööt!“
joinmastodon.org