ZWEI FLASCHEN SIND EIN BRÖTCHEN
Seit sieben Jahren bietet querstadtein von ehemals Obdachlosen geführte Touren durch Berlin an, wie es die wenigsten kennen.
Ausnahmsweise ist es ziemlich kalt an einem Sonntag im Februar. Während sämtliche Gäste bereits in Erwartung der zweistündigen Tour vor sich hin bibbern, steht Klaus mit geöffneter Jacke da und pafft schnell noch eine. Seine Vergangenheit zeigt sich nicht nur im gelassenen Umgang mit Väterchen Frost. Klaus hat diese typische, leicht nach vorn gebeugte Haltung, die jeder Witterung standhält, aber auch dafür sorgen kann, in den alltäglichen Menschenmassen Berlins unterzutauchen. In seinem Gesicht – eingefallene Wangen und gegerbte Haut – lässt sich der jahrelange Alkoholmissbrauch ablesen. Klaus redet von Beginn an offen und sehr direkt darüber, wie er über vierzig lange Jahre schwerer Alkoholiker und sieben Jahre obdachlos war. Dennoch hat er es geschafft aus der Abwärtsspirale hinauszukommen. Regelmäßig geht Klaus entlang seiner alten Pfade, doch weder um leere Flaschen zu sammeln, noch um volle in rauen Massen zu entleeren. Nein, inzwischen ist es seine Aufgabe uns diese so nahe und doch so ferne Welt greifbarer zu machen.
Jede Großstadtbewohnerin kennt sie, die fast tägliche Begegnung mit Obdachlosen im Kiez, so auch Katharina Kühn und Sally Ollech. Vor sieben Jahren liefen die beiden auf ihrem Weg zur Arbeit jeden Morgen an derselben Person vorbei. Als sie eines Tages verschwunden war und nicht wieder auftauchte, kamen die zwei ins Grübeln. Über diese plötzliche Leerstelle, welche die große Distanz zwischen den so unterschiedlichen Lebensrealitäten verdeutlichte und über die geläufigen Vorurteile gegenüber Obdachlosen, obwohl niemand je mit ihnen zu sprechen schien. Stattdessen erfahren diese Menschen Ablehnung, Ignoranz und genervte Blicke bei ihren Fragen nach etwas Aufmerksamkeit. Warum dreht niemand den Spieß mal um? Warum macht niemand diese Leute zu Subjekten statt Objekten ihrer Situation? querstadtein e.V. war geboren. Zunächst ehrenamtlich fingen die beiden Frauen 2013 an, von ehemaligen Obdachlosen geführte Stadttouren anzubieten. Die zuvor Marginalisierten sollten zu Experten ihrer Stadt werden. Denn nur sie kennen die alltäglichen Herausforderungen der Straße und jeden Winkel der Stadt.
Ein Stigma, dass sich hartnäckig hält und das Suchtkranken oder Bettlerinnen anheftet, ist das der Faulheit. Sich auf Kosten anderer ein schönes Leben ohne Arbeit machen. Doch von wegen! Wer Klaus zuhört, erfährt: Das Leben auf der Straße ist purer Stress. Jeden Morgen um sechs Uhr zog Klaus los. Sein Schlafplatz, eins der wichtigsten Dinge in seinem Leben, musste rechtzeitig geräumt werden – damit niemand ihn entdeckt. Auch der fehlende Nachschub an Alkohol machte sich nach ein paar Stunden Schlaf bemerkbar. Der überlebenswichtige Schlafsack, Wechselklamotten und ein paar Habseligkeiten mussten tagsüber im streng geheimen „Bunker“ im Gebüsch versteckt werden. Dann ging es los. Klaus setzte Prioritäten: „Zuerst der Magen, dann die Leber, dann die Lunge“. Je nachdem wie erfolgreich er beim Sammeln von Flaschen war, gab es also auch mal Spirituosen oder Tabak. Sein Grundbedarf lag dabei bei rund 20 Euro pro Tag. Wer selbst Leergut retourniert, weiß, wie viele leere Bierflaschen á acht Cent das Stück das gewesen sein müssen. Dabei hatte Klaus noch Glück, wie er berichtet: Er war „nur“ Alkoholiker. Sobald die richtig harten Drogen ins Spiel kommen, steigt auch die Wahrscheinlichkeit der Beschaffungskriminalität. Klaus wiederum versichert, davon ferngeblieben zu sein und das, trotz des harten Konkurrenzkampfs um die lukrativen Gegenden Berlins. Einmal war er abseits seiner Route unterwegs und sammelte gedankenverloren eine Flasche auf. Er kam erst im Krankenwagen wieder zu sich – brutal zugerichtet. Solche „Anekdoten“ berichtet Klaus, auch von der Furcht vor dem Ordnungsamt oder von seinem extrem hohen Aufwand bis nach Pankow zu fahren, um bei einer Hilfsorganisation seine Kleider zu waschen – sauber und ordentlich auszusehen, war ihm sehr wichtig. Doch am allerschönsten ist das Happy End seiner Geschichte: Endlich trocken, wohnt er inzwischen dauerhaft in einer kleinen Wohnung in Berlin Schöneweide und arbeitet bei querstadtein e.V. Seine Biografie, mit all ihren Wirrungen und glücklichen Fügungen, müsste eigentlich verfilmt werden. Hätte das Drehbuch nicht das Leben geschrieben, wäre es vermutlich ziemlich kitschig.
Bis Klaus und seine Kollegen jedoch so frei und stolz über die Vergangenheit erzählen können, vergeht einige Zeit. Es dauert meist einige Monate, eine Tour gemeinsam mit den Organisatorinnen von querstadtein e.V. zu erarbeiten. Das Skript ist nämlich das eine, die Präsentation das andere. Sich so vor fremden Menschen zu offenbaren, ist für die meisten eine große Herausforderung. Insbesondere, weil die Kommunikation auf der Straße für viele Jahre von großer Scham geprägt war. Aus Angst vor Zurückweisung gehen viele Obdachlose beispielsweise nicht zu Behörden und Ämtern. Und da ist von den bürokratischen Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, keinen festen Wohnsitz, keine Postadresse zu haben, noch keine Rede. Doch wenn es ihnen gelingt, derlei Hemmungen zu überwinden, kann sich oft ungeahntes Potential entfalten. Klaus, einst selbst vom Leben gebeutelt, verwirklicht heute große Solidarität mit den Zurückgebliebenen.
Die seit 2015 anhaltende Situation an den Grenzen Europas brachte das Team von querstadtein e.V. einige Jahre später auf die Idee, ähnliche Touren mit Geflüchteten anzubieten. Dies bedeutete zugleich neue Herausforderungen. Viele der Geflüchteten waren (und sind) traumatisiert, es galt kulturelle Brücken zu bauen und zu guter Letzt mussten die Touren in einer anderen als der Muttersprache der Guides durchgeführt werden. Zwar waren die Aufgaben neu, doch der emanzipatorische Effekt ähnlich. So konnten Stadtführer aus Syrien ihre ursprünglich nur in Englisch angebotenen Touren nach einiger Zeit in Deutsch halten. Sie waren in Berlin angekommen. Auch die von weit her Gereisten berichten nun in einer Mischung aus Trauer, um das Verlassene, und Stolz, auf das Erreichte. Ihre Stimmen kommen sonst im politischen und gesellschaftlichen Diskurs oft viel zu kurz. Wer aber einmal mit einem Syrer vor dem Checkpoint Charlie in Berlin Mitte stand und ihn über die vielen unterschiedlichen und gefährlichen Checkpoints in seiner Heimat berichten hörte, dem wird das hiesige historische Monument erstaunlich lebendig.
querstadtein e.V. unternahm von Jahr zu Jahr mehr Touren und kann inzwischen auf ein beachtliches Netzwerk blicken. Doch 2020 war alles anders: Auch bei querstadtein e.V. sorgte der Corona Virus und der Shutdown für drastische finanzielle Einbußen. Alle Stadtführungen mussten abgesagt werden. Man bangt bis heute um die Zukunft des Vereins. Ende Mai starteten wieder Stadtführungen, doch in kleineren Gruppen zur Beachtung der Sicherheitsmaßnahmen. FUTURZWEI schickt alle Freund*innen zu den Stadtführungen und verweist – Ausnahmen bestätigen unsere Regel – auf die gestartete Crowdfunding-Kampagne. Denn Klaus muss unbedingt wieder auf Tour gehen und eines ist sicher: Er freut sich schon drauf.