EIGENTLICH ARBEITE ICH IMMER UND NIE
Kristian Dittmann produziert Seegraskissen an der Ostsee und lebt das gute Leben. (Foto: Michael Kohls)
uturzwei.org
Stimmen die Jahreszeit und dazu die Wind- und Wellenrichtung, steht Kristian Dittmann gegen vier Uhr morgens auf, um vor dem Reinigungstrupp der Gemeinde am Strand bei Eckernförde zu sein. Dann ist er der einzige Mensch weit und breit. »Ich habe den schönsten Arbeitsplatz, den man sich vorstellen kann«, denkt er sich, spießt mit der Forke das vom Meer Angeschwemmte auf und schiebt die Schubkarre weiter. Was für die Kommunen lästiger »Müll« ist, weil es das Bild der weißen, langen Traumstrände stört und weil sich Touristen davor ekeln, ist für Dittmann, 53, eine wertvolle Ressource: Treibsel. Das ist alles, was das Meer ausspuckt und an Land spült: neben Algen, Blasentang, Federn, Schilf, Holzteilchen und kleinem Getier, wie Krebsen oder Schnecken, auch Seegras. Auf Letzteres hat es Dittmann abgesehen, denn er macht daraus Kissen. Seine »Ernte« landet auf einem Laster, einem Mercedes-Benz 609 mit vier Meter Ladefläche, und wird nach Kappeln an der Schlei gefahren. Ist es ein gutes Jahr, kommen auf diese Weise dreißig Kubikmeter Seegras zusammen, ist es ein schlechtes nur zehn Kubikmeter.
In Kappeln, am sogenannten Schlei-Ostseefjord, bezog Dittmann 2018 einen ehemaligen Kuhstall, den er aus einem Dornröschenschlaf aufweckte und dessen bauliche Substanz er nun erhält. Nach acht provisorischen Standorten, an denen er seit 2013 für seine Seegraskissenproduktion experimentierte, ist dieses tausend Quadratmeter große Gebäude nun der Ort seiner »Strand-Manufaktur«.
Dort wird das Seegras aus dem Treibsel gefiltert, gewaschen, getrocknet und am Ende in Kissenbezüge aus alter Leinen-Weißwäsche gestopft. Dittmanns Kollektion verschiedener Größen sind stets ausverkauft. Zu groß für seine Zwei-Hände-Manufaktur ist das Interesse an antiallergisch, antibakteriellen, das Schlafen verbessernden und das Schnarchen mindernden Schlafutensilien. Dittmanns kleiner Handwerksbetrieb könnte wachsen – doch er lebt »ganz wunderbar« von limitierter Stückzahl, die durch das Finanzamt aufgrund der Einstufung als Kleinunternehmer nach § 19 UStG eingehegt wurde. Deshalb muss die Kundin, die heute ein Kissen erwerben möchte, Ausdauer beweisen. Bestellungen werden ab 1. Januar 2024 wieder angenommen.
Lieferengpass? Nein, Dittmann will das genau so. Die steigende Nachfrage zerrt ihn nicht ins Hamsterrad. Er zelebriert das einfache Leben mit wenig Geld, Energie, Konsum, Komfort und einigen Tabus – wie beispielweise das Fliegen – und somit einem sehr geringen CO2-Fußabdruck.
Und er genießt dabei Freiheit, Selbstbestimmung und Zeitwohlstand. Digitalen Klimbim will er nicht und braucht er nicht: »Einkaufen statt bestellen, ins Kino gehen statt streamen, kochen statt Lieferando anrufen, lächeln statt liken. Ich brauche die Unmittelbarkeit«, sagt er und zieht ein altes Tastenhandy aus der Hosentasche, »das reicht«. Aber er betrachtet dies als seine für ihn selbst verantwortungsvolle Art zu leben – andere will er nicht moralisieren oder gar missionieren. Und das betrifft auch seine energieschonende Lebens- und Produktionsweise:
»Ich produziere alle Kissen per Hand, ohne Maschinen. Ich bin wie ein voragrarischer Sammler«, sagt er, blinzelt in die Sommersonne und dreht sich entspannt eine Zigarette.
Seine Zeit braucht Dittmann für andere Dinge: mit dem Sohn rumalbern, Huhn Jette streicheln oder die Schafe Heidi und Schnucki beobachten, einen historischen Schleikahn aus Mahagoniholz restaurieren, am Lagerfeuer sitzen und selbstgemachtes Essen genießen. Seegras ist also nicht nur Dittmanns nachwachsender Rohstoff für Kisseninnenleben, sondern das Material, das ihm ein Leben nach seinem Gusto ermöglicht. Wenn jedoch die Touristen, die an diesem Sommertag im historischen Hafen von Kappeln in Strandkörben sitzen und an bunten Getränken nippen, weniger werden, wird Dittmann hibbelig, denn im Spätsommer beginnt die Seegras-Saison und geht bis Weihnachten.
Wenn er nicht auf Seegrassuche ist, hält er auch gern mal Vorträge über das hochsensible Küsten- und Meeresökosystem und gibt Wochenendworkshops, »Vom Seegras leben« zum Beispiel. Auch auf politischer Ebene ist Dittmann schon aktiv geworden. Er organisierte einen Seegraskongress, veröffentlichte einen Leitfaden zum Umgang mit Treibsel und setzt sich überall für Küsten- und Dünenschutz ein. Kurz: Er macht beste Öffentlichkeitsarbeit für die Ostsee im eigenen Auftrag.
Foto: Michael Kohls
»Eigentlich arbeite ich immer und nie. Das wäre doch eine gute Headline für diesen Artikel über mich?« Dittmann denkt mit. Nachdem er seine Kindheit in Laboe an der Kieler Förde verbracht hatte, studierte er Soziologie sowie Meeresbiologie und war selbst als Journalist für Reisereportagen auf dem Meer unterwegs. Dittmann schreibt noch heute, er schreibt fortlaufend an seinem Buch Einfach Leben (2023, in der zehnten Auflage): mit zahlreichen guten Ideen, Do-it-yourself-Bauanleitungen und viel über die Jahre verschütteten Fakten über Seegras und seine Verwendung als Stopf- und Isolierwolle, aber auch als Düngemittel. So holt Dittmann altes Wissen und eine vergessene Kulturtechnik aus den Tiefen der Vergessenheit zurück. »Neulich habe ich in der Zeitung gelesen, dass Schalke seinen Stadionrasen mit Treibsel düngt. Mehr geht nicht!«, sagt er und freut sich sichtlich über die neue Karriere des natürlichen Düngers.
Um seine Seegraskissenproduktion zu erklären, wechselt Dittmann jetzt das Outfit. Über sein weißes Leinenhemd hängt er sich eine Metzgerschürze, dann zieht er quietschblaue Besamungshandschuhe bis über die Ellenbogen – und er weiß genau, denn er lacht breit, dass er damit aussieht, als wäre er einem Splatterfilm entstiegen. Dann aber zeigt er mit angemessenem Ernst, die aus Lkw-Planen selbstgebauten riesigen Waschwannen für die Reinigung des Seegrases und das gewaltige, mit Silagegewebe bespannte Holzgestell für die Trocknung, eine Konstruktion aus Dachlatten und Paletten. Am Ende der Produktionsstrecke präsentiert Dittmann die große Kissen-Stopf-Show: Material lockern, in die Hülle geben, schütteln, stopfen, schütteln, stopfen … bis es prall ist. »Alle denken, das stinkt, tut es aber nicht. Es raschelt schön. Es sind die Algen, die stinken, nicht das Seegras«, sagt Dittmann und übertönt damit das Seegrasknistern.
»Oft bin ich mehr Pädagoge und Gesundheitsberater als Seegraskissenproduzent«, erzählt Dittmann. Gruppen von Senioren und Landfrauen würden kommen und jeder hätte seine ganz eigene »Kissenstory« dabei: über Schlaf würde gern geredet, über durchgeschwitzte Laken, schnarchende Partner oder Nackenschmerzen. Aber auch mit Schulkindern hat Dittmann schon Projekte gemacht: Er initiierte eine Strand-AG, sammelte Müll aus der Schlei, baute mit den Kids ein Treibsel-Hochbeet im Schulgarten oder nähte gemeinsam mit geflüchteten Frauen Puppen und ließ diese von Kindern mit Seegras befüllen.
Die Scheune ist nicht nur seine Manufaktur, sondern auch sein Wohnort. Der vierzig Quadratmeter große ehemalige Kälberstall, frisch renoviert, gehört nur ihm und seinen Lieben. Dieser private Space bleibt für Seegras-Kundinnen und Journalist*innen geschlossen. Dittmann erzählt aber, wie er da einen Holzofen hineingestellt und den Raum mit einem Solarpanel verbunden hat. Das Regenwasser werde aufgefangen und dann unter anderem für die Toilettenspülung genutzt. Am Ende habe jeder seine eigene Vorstellung vom guten Leben. Und das sei auch gut so.