Wo grosses wächst- die GemüseheldInnen wollen Frankfurt essbar machen
Die GemüseheldInnen wollen Frankfurt essbar machen, indem sie gemeinschaftlich Permakulturgärten quer über die Stadt verteilt anlegen. Trotz Widrigkeiten sind sie in kurzer Zeit enorm expandiert. Ihr Erfolgsrezept: Gelassenheit, Zusammenhalt – und eine Prise Größenwahn.
„Wir waren von Anfang an größenwahnsinnig, das mussten wir sein“, sagt Laura Setzer, in der Hand eine kleine Tüte voll frisch geernteter Wildkräuter. Hinter ihr ragen hohe Gebäude in den frühherbstlichen Großstadthimmel, nur wenige Meter entfernt brettern Autos über die Hansaallee, gelegentlich durchbricht ein Hupen das Verkehrsrauschen. Setzer befindet sich auf dem Universitätscampus im Frankfurter Westend, in einem umzäunten Gartenareal. Liebevoll gepflegte Beete säumen das rund 2.000 Quadratmeter große Grundstück, Salatköpfe sprießen hier, Palmkohl, Lauch, Hirschhornwegerich. An einem kleinen Holzschuppen hängt eine Tafel, auf der jemand mit Kreide einige To-Dos notiert hat. „Brombeeren aus Beeten entfernen“, „Tomaten & Auberginen ebenerdig abschneiden“ und – mit einem Ausrufezeichen – „Ernten!“.
Gemeinsam mit ihrer Partnerin Juliane Ranck, dem von ihnen initiierten Gärtner*innenkollektiv GemüseheldInnen und Studierenden der Goethe-Universität Frankfurt am Main hegt und pflegt Setzer seit den Frühlingsmonaten des Jahres 2021 den nach Prinzipien der Permakultur angelegten Garten. PermaKulturInsel nennen die Beteiligten den sozialen Treffpunkt, dessen Ernte schon jetzt, wenige Monaten nach Aussaat, reichhaltig und zu hundert Prozent essbar ist.
Die Keimzelle des Projekts liegt knapp drei Kilometer östlich des Campus’, in der sogenannten „Grünen Lunge“. Wer sich in der Frankfurter Kommunalpolitik auskennt, wird diesen Namen kennen. Denn auf dem 16 Hektar großen Gartenareal im Nordend planten einige Investoren*innen zusammen mit der Stadt den Bau einer Wohnsiedlung, größtenteils hochpreisige Wohnungen. Mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen setzen sich im Verlauf der Bebauungspläne lautstark für den Erhalt des Geländes mitsamt seinen über 2.000 Bäumen ein.
Als Ranck und Setzer Anfang 2019 in einen ungenutzten, verwilderten Teil des Gartenareals stolperten, gerieten sie in die Fronten des Konflikts. Denn sie wussten sofort: Das ist er, der ideale Ort für die Umsetzung ihrer Vision.
Die Vision von Ranck und Setzer – und das verweist auf den eingangs erwähnten Größenwahn – ist eine Ernährungswende, am liebsten flächendeckend. „Das Thema Essen fasziniert uns schon lange“, sagt Ranck. Schließlich mache die Ernährungsweise ein Drittel des ökologischen Fußabdrucks aus und sei ein wichtiger Hebel im Kampf gegen den Klimawandel. Naheliegend, ihre Leidenschaft zum Gärtnern dafür einzusetzen, sich und möglichst viele andere selbst zu versorgen – mitten in der Stadt. Der noch nie überbaute Boden und das intakte Ökosystem der Grünen Lunge schienen optimale Bedingungen für regeneratives „Urban Farming“ zu bieten. Spätestens an diesem Punkt wurden die Bebauungspläne der Stadt auch für Ranck und Setzer zum Problem.
Statt sich mit Behörden rumzustreiten, schlugen Ranck und Setzer einen anderen, unkomplizierteren Weg ein: Sie fingen einfach an. „Die Fläche war dermaßen verwahrlost und vermüllt, das konnten wir nur besser machen“, sagt Laura Setzer und macht eine ausholende Handbewegung. Gut zweieinhalb Jahre sind seither vergangen und verwahrlost sieht dieser Ort, an dem Ranck und Setzer bei strahlendem Sonnenschein und bester Laune von ihrem Projekt erzählen, wahrhaftig nicht mehr aus. Ordentlich hintereinander aufgereihte Beete erstrecken sich links vom kleinen Gartentor, zur Rechten steht hinter einem selbstangelegten Teich ein Picknicktisch, in der Ecke rahmen hohe Nadelbäume einen hölzernen Geräteschuppen.
Insgesamt 14 Beete befänden sich hier im „Market Garden“, erzählt Juliane Ranck, während sie behutsam zwischen den Pflanzenreihen entlangstreift und ab und an einige orangegelbe Ananaskirschen aufliest. Wie in der Permakultur üblich werden die Beete das ganze Jahr durchgehend bepflanzt. Auf wenig Boden soll der größtmögliche Ertrag erzielt werden, weil man so wenig Erdoberfläche wie möglich „stören“ möchte. Andererseits erfordert die ganzjährige Bepflanzung eine Vielfalt an Arten mit je anderen Bedarfen, die sich wiederum gegenseitig nähren, ergänzen und unterstützen – wie in einem natürlichen Ökosystem. Statt auf Maschinen und Chemikalien setzt die Permakultur auf fundiertes Wissen über diese Systeme, um sie zu imitieren. Ein Ansatz, der Ranck und Setzer von Beginn an überzeugte.

Nach umgangenen bürokratischen Hürden und anfangs mau besuchten Entmüllungsaktionen wurde das Projekt schnell zum Selbstläufer. Einige aufmerksam gewordene Pächter*innen boten den Gemüseheldinnen an, ihre Gärten mitzubewirtschaften, Peter Beckmann von der Bügerinitiative zum Erhalt der Grünen Lunge vermittelte ihnen freiwerdende Gärten. Mittlerweile bepflanzen sie 16 Gärten in der Grünen Lunge. Dass die meisten davon zum Gemüseanbau nicht sonnig genug sind, wurde Ranck und Setzer – beide Quereinsteigerinnen in das Metier der Permakultur – erst nach einigen Ernteausfällen bewusst. Rückschlägen wie diesem begegnen die beiden gelassen. „Wenn wir gescheitert sind, ist daraus immer etwas Neues entstanden“, sagt Setzer. In den schattigen Gärten zum Beispiel entstanden Orte für Austausch und Zusammenkunft.
Über 250 Menschen zählen inzwischen zu den GemüseheldInnen, gärtnern und entscheiden mit und bereichern das Projekt durch eigene Fähigkeiten. Ilka Wittig etwa hat detaillierte Anbauplanungen für alle Gärten entworfen, um künftige Ernteausfälle zu umgehen; die Künstlerin Michaela Heidlas-May hat den ehemals vermüllten „Werklaborgarten“ zu einem offenen Atelier umgestaltet, in dem regelmäßig Kreativworkshops und gemeinsame Mahlzeiten für alle Hungrigen und Interessierten stattfinden.
Dass die Angebote guten Anklang finden, stimmt die Gemüseheldinnen zuversichtlich. „Wir sind gerade an einem spannenden Punkt“, sagt Ranck. Kurz nach Erscheinen ihres ersten Buchs „Urban Farming“ ist das zweite Buchprojekt schon in Arbeit (dafür läuft gerade eine Crowdfunding-Kampagne). Auch wolle man bald eine Akademie gründen. Wichtig ist den Gemüseheldinnen, trotz Expansion ein soziales Projekt zu bleiben. „Auch Leute, die nicht in den Biosupermarkt gehen, sollen sich hier Salat pflücken“, sagt Setzer, während sie zurück auf dem Campus Westend ihr Abendessen erntet. Die übrigbleibende Ernte wird in der Grünen Lunge auf Spendenbasis an Passant*innen verteilt, außerdem beliefern die GemüseheldInnen seit Juni 2021 einmal wöchentlich das Restaurant „Wir Komplizen“ in Frankfurt Bornheim. Manchmal versorge man zudem eine Kantine im Stadtteil Bockenheim sowie Fridays-for-Future-Demos.
„Wir verstehen uns als Teil einer städtischen Gemeinschaft“, betonen die Gemüseheldinnen. Weil auch natürliche Ökosysteme nicht geschlossen und abgeschottet gegenüber ihrer Umwelt seien, ist die Kooperation mit anderen Institutionen und Organisationen für sie „gelebte Permakultur“.
Trotz aller vergangenen Differenzen hinsichtlich der Grünen Lunge arbeiten die GemüseheldInnen auch eng mit der Stadt Frankfurt zusammen, die von erwähnten Bebauungsplänen nach dem kommunalen Wahlsieg der Grünen 2019 abließ. Nun sind die GemüseheldInnen abermals mit Bebauungsplänen konfrontiert: Auf dem Campusgarten soll eine Schule entstehen. „Dagegen werden wir nicht vorgehen“, bekräftigen Ranck und Setzer. Ob sie sich angesichts dieser Pläne um die Zukunft ihres Projekts sorgen? Die beiden Frauen winken ab: „Wir gehen nach dem gleichen Motto vor wie in der Grünen Lunge: Wir tun so, als würde es ewig weitergehen, und hoffen, dass es zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird.“ Ist das größenwahnsinnig?
PS: Hoch hinaus wollen die GemüseheldInnen nun auch noch. Derzeit suchen sie nach Dächern in Frankfurt, die sie gemeinsam grüner, essbarer und schöner machen können.