Warum unsere Welt immer noch dieselbe ist, aber unsere Möglichkeit, sie zu verändern, eine andere

Paula Steingäßer 

Ursprünglich auf futurzwei.org gepostet

Eine junge Sicht auf die aktuelle Lage

„Wir sind am 24. Februar 2022 aufgewacht, und die Welt war eine andere.“

Wie oft habe ich diesen Satz in den letzten Tagen gelesen. In ihm liegt der bodenlose Schock, die Angst vor dem, was noch kommt, die Ungewissheit über unsere so sicher geglaubten Leben, die wir alle empfinden.

Aber war die Welt am 23. Februar 2022 wirklich noch eine andere?

Verändert hat sich doch vor allem die westlich-europäische Einsicht in das, was die Realität im 21. Jahrhundert ausmacht. Ich habe Artikel gelesen, die das Ende des Glaubens in eine friedliche Weltordnung und Zukunft betrauert haben, den letzten Hoffnungsschimmer in eine Welt, die aus der Geschichte lernen kann – und ich bin wütend geworden.

Ich bin 22 Jahre alt, und meine Jugend war nicht von der Sorglosigkeit und Naivität geprägt, die uns kriegsfernen jungen Erwachsenen so oft unterstellt wird. Ich bin in dem Wissen groß geworden, dass meine Generation in ein System hineingeboren wurde, das nicht nur seine eigenen Lebensgrundlagen zerstört, sondern dabei auch noch soziale Spaltung, Diskriminierung und Ausbeutung vorantreiben muss, um bestehen zu können; das wirtschaftliche Kurzsichtigkeit über politische Werte und Gestaltungskraft stellt, und dabei Kriege überall auf der Welt in Kauf nimmt. Mein jugendliches Weltbild ist nicht davon ausgegangen, dass die westliche Demokratie gesiegt hat und Krieg mir nur noch in meinem Geschichtsstudium begegnen wird, sondern war von dem Unverständnis und der Angst gegenüber dem Augenverschließen unserer Gesellschaft gezeichnet, die sich Jahr für Jahr weigerte, die Warnungen vor den ökologischen und sozialen Folgen der Klimakrise ernst zu nehmen, ganz zu schweigen von dem ausbeuterischen Gesicht unseres Wirtschafts- und Lebensmodells.

Ich bin 22 Jahre alt und für mich fühlt es sich nicht so an, als hätte sich die Welt am 24. Februar 2022 in eine andere verwandelt. Vielmehr hat der privilegierte Teil unserer Welt endlich verstanden, dass unser Mantra des „Wenn-ich-nur-so-tue-als-würde-mich-das-alles-nichts-angehen-passiert-mir-nichts“ zwar unsere persönlichen Wirklichkeiten eine Zeit lang sicherer macht, aber uns langfristig nicht vor der Konfrontation mit den Problemen unserer Zeit rettet. Die Realitätsverweigerung unserer Lebensweise und politischen Einstellung hat am 24. Februar 2022 eine Invasion der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts erlebt, und das hat mehr Angst ausgelöst, als alle Warnungen der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten zusammen. Erst durch einen Krieg mitten in Europa schaffen wir es, über fossile Abhängigkeiten und neue Handlungsspielräume nachzudenken, und das ist erbärmlich – wie viele Leben hätten wir retten können, nicht nur in der Ukraine, sondern auf dem gesamten Globus, wenn wir früher unsere reale Rolle in dieser Welt wahrgenommen hätten? In der schockierendsten Form bekommen wir momentan vor Augen geführt, dass eine Politik der reinen Reaktion einen Preis besitzt, den wir mit unserem demokratischen, humanistischen Selbstverständnis niemals bewusst wählen würden, der aber dennoch eine aktive Entscheidung ist, wenn man sich dem Wissen um die Konsequenzen seines Handelns verschließt.

Die Wirklichkeit hat uns überholt, und wenn wir jetzt nicht alle unsere Anstrengungen bündeln, werden wir sie nie mehr einholen. Die Generation von FridaysForFuture hat das mehr als jene Erwachsenen verstanden, die unsere politischen Entscheidungen treffen und die Kommentare unserer Zeitungen schreiben. Die Katastrophen, die wir nie erleben wollten, treffen uns mit den ersten Schlägen, und wir haben die historische Chance, diese Kraft zu nutzen. Genauso wie in der Ukraine gerade für die Freiheit unserer Demokratien gekämpft und gestorben wird, in einem hartnäckigen Widerstand, den Putin offensichtlich verheerend unterschätzt hat, so können wir in unseren sicheren, privilegierten Leben in dieses Eintreten für unsere realen Werte miteinstimmen und echte Entscheidungen für die Welt, in der wir alle leben wollen, treffen und umsetzen.

Wir sind am 24. Februar 2022 zwar in derselben Welt aufgewacht, aber wir können unsere veränderte, noch fassungslose Sicht nutzen, um sie – nun endlich bewusst und überlegt – mitzugestalten.

Während in der Ukraine aus machtpolitischen, imperialen und egozentrischen Gründen Menschen ihr Zuhause oder ihr Leben verlieren, erscheint der neue IPCC-Bericht zur Klimakrise. Er wiederholt nicht nur die Warnungen, die ältere Generationen nun schon seit Jahrzehnten kennen, sondern zeigt, dass die Folgen der Klimakrise sehr viel drastischer ausfallen werden, als bisher angenommen. Das Leben von Millionen von Menschen wird nicht nur durch ökologische Katastrophen bedroht, sondern auch durch Konflikte und Kriege um knappe Ressourcen. Doch das wichtigste an diesem Bericht ist aus meiner Sicht das wiederholte Aufzeigen ganz realer, möglicher Lösungswege. Wenn wir nicht immer und immer wieder in einer schockierend anderen Welt aufwachen wollen, können wir jetzt als Gesellschaft die Utopie meiner Elterngeneration Wirklichkeit werden lassen: aus unserer Vergangenheit lernen, um eine friedliche und gerechte Zukunft zu gestalten. Wir können die Energie dieses Schocks wie die Ukrainerinnen und Ukrainer in unserem eigenen Leben in Mut übersetzen und endlich unser Wissen nutzen und Entscheidungen treffen, bevor es zu spät ist – auch wenn das heißt, unser eigenes Leben zu verändern, um andere zu retten. In Bezug auf Osteuropa haben wir das nicht geschafft, aber es liegt eine ganze Welt um uns herum, in der wir endlich zu unseren Träumen und Werten stehen können. Wir können in der ohnmächtigen Fassungslosigkeit über unsere Gesellschaft versinken oder die Prognosen und Situationen schönreden – was nur dazu führen wird, dass wir immer öfter morgens von Nachrichten erschlagen werden, die uns an der Zukunft der Menschheit zweifeln lassen; oder wir stellen uns unserer Angst und Trauer und entscheiden uns endlich für den Mut, um unsere eigene Lebensrealität zu verändern und damit die Welt mitzugestalten, bevor es zu spät ist.

Wenn wir in Trauer und Anteilnahme in Gedanken bei den Menschen in der Ukraine sind und voller Angst an die weiteren Entwicklungen, auch in unserem eigenen Leben, denken; wenn wir Mut und Trost in der Gemeinschaft mit anderen auf Friedenskundgebungen oder in der Hilfe für die Betroffenen vor Ort finden; dann lasst uns dieses fassungslose Innehalten unserer Welt auch dafür nutzen, uns den grundlegenden Fragen zuzuwenden, wie wir humanitäre und politische Katastrophen in der Zukunft vermeiden können; lasst uns nach dem Spenden und Protestieren diese Kraft mit nach Hause und in die Politik nehmen und langfristige Veränderungen beginnen.

Vielleicht entsteht die neue, friedlichere Zukunft gerade dann, wenn der Glaube an sie verloren gegangen scheint.