Kollektiv statt Kollektion
Während bei H&M und Co. beinahe jede Woche eine neue – grün angemalte – Kollektion auf Konsument*innen wartet, die Kleiderschränke immer voller werden und niemand mehr das richtige Maß kennt, wieviel man tatsächlich braucht, zeigt uns ein kleines Kollektiv im Neuköllner Bezirk, dass man Kleidung auch tauschen und reparieren kann.
Vor den bunt bemalten und plakatierten Schaufenstern des trial & errors Projektraums warten bereits einige Menschen darauf, dass sich die Türen öffnen. Als es 16 Uhr schlägt dreht sich der Schlüssel und alle packen mit an. Die Kleiderstangen werden an die Bordsteinkannte gerollt und sowohl der Klamottenwühltisch als auch die grüne Spendendose finden ihren Platz neben dem Eingang. Der Tauschladen ist geöffnet – es kann losgehen. Gemütlich schlendern Nachbar*innen aller Altersgruppen durch den Laden.
Regale und Schränke beherbergen hunderte Kleidungsstücke, die sorgfältig gefaltet an ihren gekennzeichneten Plätzen liegen. Rechts steht ein weiterer großer Tisch, an dem ein ehrenamtlicher Mitarbeiter sitzt, welcher konzentriert an einem Kleidungsstück herumfriemelt, jedoch stets beim Eintreten neuer Besucher*innen den Kopf hebt und herzlich grüßt. Hinter ihm stehen Nähmaschinen und bunte Garnrollen in den Regalen. Ein CD-Spieler dudelt leise vor sich hin und man fühlt sich sofort wohl.
Auf zwei Spiegeln steht in blauer, verschnörkelter Schreibschrift „Wunderbar!“ geschrieben und mit dicken Großbuchstaben „SCHÖN! :)“. Diese Sätze sollen dem kritischen Blick in den Spiegel ein Schnippchen schlagen. Über den Kleiderstangen hängen kleine Plakate in sechs verschiedenen Sprachen, die um eine friedliche und respektvolle Atmosphäre bitten. Das gelingt auch.
Auffällig sind die Ruhe, die einige der Tauschladen-Besucher*innen ausstrahlen und die Selbstverständlichkeit, mit der die mitgebrachten Klamotten in den entsprechenden Regalen platziert werden. Jede*r fühlt sich für den Laden mitverantwortlich und schätzt ihn wert. „Das ist bei uns als Kollektiv wesentlich.“, erklärt Jule später, die bereits seit sieben Jahren Teil des Kollektivs ist. Der Mitarbeiter, der vor einigen Minuten noch am Tisch saß, hält nun eine weiß-lila gemusterte Hose aus dem Tauschaden hoch. Der Knopf fehlt, doch daran soll es nicht scheitern. Er zieht eine kleine Tüte mit lauter Knöpfen hervor. Annähen muss man allerdings selbst, aber wer das Kollektiv kennt, dem ist Selbermachen kein Fremdwort. Das Leben der Hose ist also noch lange nicht zu Ende.
Die Idee für trial & error ist 2010 bei dem RecycledCreativity Festival entstanden. Die Gründer*innen Rutha Vimba und Julia Vernersson hatten die Vision, das Thema des Festivals – „Upcycling“ – zu professionalisieren und einen Raum zu schaffen, in dem man sich ausprobieren kann, ohne Angst zu Scheitern. Trial and error – Versuch und Irrtum. Für Vimba und Vernersson war von Anfang an klar, dass das Fehlermachen ein essenzieller Teil der persönlichen Entwicklung ist, und man sich nur frei ausprobieren kann, wenn Fehler nicht unter allen Umständen vermieden werden müssen. Trial & error organisiert seitdem verschiedenste Projekte. Dazu zählen neben dem Tauschladen auch ein Textillabor, in dem das Reparaturcafé „Textil“ untergebracht ist. Als Verteiler der Freiwilligenorganisation foodsharing – ein Netzwerk um Lebensmittel zu verteilen, die sonst im Müll landen – rettet trial & error wöchentlich Obst, Gemüse etc. und schnippelt und kocht damit gemeinsam unter dem Namen „Schnippeldisco“. Für Wissbegierige werden Workshops mit nachhaltigem Schwerpunkt angeboten und Publikationen auf der Webseite bereitgestellt. Damit möchte man Wissenshierarchien abbauen und Fähigkeiten weitergeben: „Uns ist die Idee von Creative Commons wichtig, deshalb sagen wir: Wissen muss geteilt werden, Wissen sollte wachsen und sich weiter entwickeln können. All das wird durch ein Copyright limitiert.“.
Für die Menschen, die hinter trial & error stehen und sich im Kernteam befinden, bedeutet das permanent eine Menge Arbeit. Zurzeit arbeiten dort lediglich vier aktive Erwachsene, die zum Teil schon lange dabei sind. Neben diesem Kernteam helfen Nachbar*innen ehrenamtlich hauptsächlich beim Tauschladen sowie beim Foodsharing. Aktuell beschäftigt der Verein noch zwei EVS-ler*innen (European Voluntary Service) und eine BFD-lerin (Bundesfreiwilligendienst) im Team. Das Kollektiv ist auf ehrenamtliche Mithilfe angewiesen und finanziert seine Projekte und Räumlichkeiten durch Spenden, durch externe Förderungen, durch Weitervermietung des Raumes und durch Mitgliedschaftsbeiträge.
Das Team organisiert sich in Plenen, die wöchentlich und monatlich stattfinden. Beim sogenannten Montagsmeeting wird hauptsächlich die jeweilige Woche geplant und besprochen, wer die nächste Schicht, beispielsweise im Tauschladen, übernimmt.
Der Tauschladen nimmt einen großen Teil der Arbeit von trial & error ein, denn die Idee des Tauschens statt Kaufens – und das funktioniert bei trial & error wunderbar – schont Ressourcen, was dem Kollektiv sehr am Herzen liegt. Bereits produzierte Textilien, wie die gemusterte Hose, sollen nicht entsorgt oder vergessen werden, sondern bekommen durch den zweimal wöchentlich stattfindenden Tauschladen die Chance auf ein zweites oder sogar drittes Leben – sofern sich jemand in das Kleidungsstück verguckt und es mitnimmt. Das kommt auch im Kiez gut an. Wer ein paar neue Klamotten braucht, kommt hierher und tauscht – kostenlos. Wer spenden kann, steckt anonym ein paar Münzen oder Scheine in die Spendendose. Auch wenn trial & error Alternativen zum Kapitalismus aufzeigen und lokale Kreisläufe etablieren möchte, muss die Raummiete trotzdem bezahlt werden. Ganz so streng werden das Tauschen und Spenden jedoch nicht gesehen: Wer gar kein Geld hat und dringend Klamotten braucht, muss auch nichts zum Tauschen mitbringen und auch nicht bezahlen. Das Kollektiv möchte einen solidarischen, diskriminierungsfreien Raum schaffen, indem sich Menschen vernetzen, austauschen und unterstützen können.
„Ich koordiniere mit zwei anderen aus unserem Kollektiv das Textillabor als großes Projekt. Ebenso ein nachbarschaftliches Projekt, bei dem es um das Zusammenleben im Richardkiez geht. Dabei ist uns die Belebung öffentlicher Plätze wichtig. Wir machen zum Beispiel Pop-Up-Projekte und Pflanzentauschaktionen. Und auch am Foodsharing beteilige ich mich“, erzählt Jule. Da keine großen Honorare ausgezahlt werden können, arbeitete eine Zeit lang zusätzlich in einem sozialversicherten Nebenjob. „So machen das viele, die bei uns aktiv sind“, berichtet die 36-Jährige.
Vor sieben Jahren hatte Jule nach Kleidertauschmöglichkeiten für ihre Tochter gesucht und ist dadurch auf trial & error gestoßen. Im Tauschladen sind hauptsächlich Kleidungsstücke für Erwachsene zu finden, weshalb Jule damals den Kinderkleidertausch, den sie sich wünschte, direkt mitorganisierte. Seitdem hat sich viel getan. Das Kollektiv reiste mehrmals quer durch den Kiez, bis sie die Räumlichkeiten in der Braunschweiger Straße entdeckten, und sich dort ihrer der Nachhaltigkeit verschriebenen Kreativität widmen konnten – und immer noch tun. Außerdem hat sich das Kollektiv seither vergrößert und ist bekannter geworden, und wenn trial & error wächst, müssen die Räume, wie die Klamotten beim heranwachsenden Kind, auch getauscht werden.
Auch wenn das Kollektiv nun schon über ein Jahrzehnt besteht, regelmäßig neue Gesichter im Team auftauchen und sich trial & error Urgesteine wegen der eigenen Familienplanung zurückziehen, hat sich die Vorstellung der Leitgedanken, wofür das Kollektiv stehen soll, nicht verändert: Selbstwirksamkeit zu erfahren, indem man einfach anfängt und aktiv wird und dabei in den Austausch mit den Nachbar*innen – aber auch Menschen außerhalb der eigenen Bubble – kommt und Gemeinschaft erfährt. Das sind auch die Gründe, die Jule aufzählt, warum ihr trial & error so viel bedeute, zudem schwärmt sie von der guten Teamstruktur und der gegenseitigen Unterstützung.
Sollte die weiß-lila gemusterte Hose in ihrem neuen Zuhause irgendwann erneut kaputt gehen, steht wieder eine Reparatur statt dem Gang zum Mülleimer an – und vielleicht liegt sie dann an einem Montagabend zusammen mit anderen Lieblingsstücken, auf den Tischen des Reparaturcafés und wird wieder schick gemacht – für ihr drittes Leben.