Impfstoffe für Menschen, nicht für Profite

Ursprünglich geschrieben am project syndicate

ONDON – Jüngste Ankündigungen über die in Studien nachgewiesene Wirksamkeit von Covid-19-Impfstoffen haben Hoffnungen geweckt, dass eine Rückkehr zur Normalität in Sicht ist. Die vorläufigen Daten zu den neuartigen mRNA-Impfstoffen von Pfizer/BioNTech und Moderna präsentieren sich höchst ermutigend und deuten darauf hin, dass ihre Zulassung für den Notfalleinsatz bevorsteht. Und Nachrichten der letzten Zeit über die (etwas geringere) Wirksamkeit des Impfstoffs von AstraZeneca und der Universität Oxford lassen Optimismus aufkommen, dass noch weitere Durchbrüche bevorstehen.

Theoretisch würde die Verfügbarkeit eines wirksamen Impfstoffs den Anfang vom Ende der Covid-19-Pandemie bedeuten. In der Praxis stehen wir allerdings noch nicht einmal am Ende des Anfangs der Bereitstellung eines notwendigen „Impfstoffs für die Menschen” der gerecht verteilt wird und für alle, die ihn benötigen, frei verfügbar ist.

Freilich ist es zu würdigen, wenn innerhalb weniger Monate ein Impfstoff entwickelt wird. Der Menschheit ist ein gewaltiger technologischer Sprung nach vorn gelungen. Als Sprungbrett fungierten jedoch jahrzehntelange massive öffentliche Investitionen in Forschung und Entwicklung.

Die meisten der führenden Impfstoffkandidaten wappnen das Immunsystem gegen das so genannte „Spike-Protein“ des Virus. Dieser Ansatz wurde durch jahrelange Forschung an den US-amerikanischen National Institutes of Health ermöglicht. In jüngerer Vergangenheit erhielt BioNTech von der deutschen Bundesregierung 371 Millionen Euro und Moderna bekam 1 Million Dollar von der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations sowie über 1 Milliarde Dollar von der US Biomedical Advanced Research and Development Authority sowie der  US Defense Advanced Research Projects Agency. Für den Impfstoff von AstraZeneca und der Universität Oxford gab es über 1 Milliarde Pfund an öffentlichen Mitteln.

Damit sich allerdings technologische Fortschritte in Gesundheit für alle niederschlagen, sollten gemeinschaftlich entwickelte Innovationen im öffentlichen Interesse und nicht zugunsten des privaten Profits geregelt sein. Dies gilt insbesondere, wenn es um die Entwicklung, Herstellung und Verteilung eines Impfstoffs im Zusammenhang mit einer Pandemie geht.

Kein Land kann diese Krise im Alleingang bewältigen. Deshalb brauchen wir Impfstoffe, die universell und frei verfügbar sind. Und doch wird im gegenwärtigen Innovationssystem den Interessen der Länder mit hohem Einkommen Vorrang vor jenen aller anderen eingeräumt und den Profiten ein höherer Stellenwert beigemessen als der öffentlichen Gesundheit.

Der erste Schritt in Richtung eines Impfstoffs für alle Menschen besteht darin, vollständige Transparenz hinsichtlich der Ergebnisse der klinischen Studien zu gewährleisten. Das würde die unabhängige und zeitnahe Beurteilung der Sicherheit und Wirksamkeit ermöglichen. Die Veröffentlichung dürftiger, vorläufiger Daten in Form von Pressemitteilungen der Unternehmen eignet sich für Finanzmärkte, aber nicht für das öffentliche Gesundheitswesen. Diese Praxis schafft einen fragwürdigen Präzedenzfall. Während die Aktienkurse der pharmazeutischen Industrie in die Höhe schnellen, verfügen Beschäftigte im Gesundheitswesen und die Öffentlichkeit über kein klares Bild hinsichtlich der veröffentlichten Resultate. In dem Maße, da mehr Details über die Mängel im Design und in der Durchführung der klinischen Studien für den AstraZeneca-Oxford-Impfstoff bekannt werden, mehren sich auch die Forderungen nach offener Wissenschaft und einem unmittelbaren Austausch von Protokollen und Ergebnissen.

Hinzu kommt, dass kritische Fragen zu den führenden Impfstoffkandidaten unbeantwortet bleiben. Als Reaktion auf den politischen und wirtschaftlichen Druck in Ländern hohen Einkommens setzen Pharmaunternehmen alles daran, ihre Impfstoffkandidaten schnellstmöglich über die Ziellinie zu bringen. Dementsprechend haben sie ihre klinischen Phase-Drei-Studien so konzipiert, dass diese so rasch wie möglich positive Ergebnisse liefern, anstatt sich relevanteren  Fragen zu widmen wie etwa jener, ob der Impfstoff eine Infektion verhindert oder nur vor der Krankheit schützt. Unklar ist auch, wie lange der Schutz anhält, ob ein bestimmter Impfstoff bei jungen und alten Menschen oder bei Menschen mit Komorbiditäten gleich gut wirkt und wie die führenden Impfstoff-Kandidaten im Vergleich zueinander abschneiden (entscheidend für die Entwicklung wirksamer Impfstrategien).

Darüber hinaus bleiben nationale Interessen – insbesondere die der Industrieländer – der dominierende Faktor bei der Auslieferung der Impfstoffe. Die Etablierung der internationalen Kauf- und Vertriebsplattform COVAX stellt zwar einen bedeutsamen Fortschritt dar, doch ihr Einfluss wird durch massive bilaterale Vorkaufsvereinbarungen reicher Länder zunichte gemacht, die es sich leisten können, auf mehrere Impfstoffe zu setzen. So haben beispielsweise Länder hohen Einkommens bereits fast 80 Prozent jener Impfdosen von Pfizer/BioNTech und Moderna gekauft, die innerhalb des ersten Jahres verfügbar sein werden.

Alles in allem haben die reichen Länder Anspruch auf 3,8 Milliarden Impfdosen verschiedener Hersteller erhoben, verglichen mit 3,2 Milliarden für den Rest der Welt zusammengenommen (darunter etwa 700 Millionen Dosen für COVAX). Mit anderen Worten: Länder hohen Einkommens haben genug Impfdosen vorbestellt, um ihren Bedarf mehrfach abzudecken, so dass dem Rest der Welt potenziell zu wenig zur Verfügung steht, um selbst die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu impfen.

Und da sich der Wettlauf um die Entwicklung der Impfstoffe hauptsächlich um westliche Märkte dreht, sind manche Impfstoff-Kandidaten außerhalb des Industrieland-Kontexts kaum brauchbar. Der Pfizer/BioNTech-Impfstoff muss bei -70º Celsius gelagert werden –  das ist kälter als der antarktische Winter. Insbesondere für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen wird die Verteilung dieses Impfstoffs kostspielige und komplexe logistische Herausforderungen mit sich bringen. Obwohl andere Kandidaten – wie der Impfstoff von AstraZeneca-Oxford – bei höheren Temperaturen stabil sind, ist es durchaus bemerkenswert, dass das erste zulassungsfähige Produkt derart haarsträubende Merkmale der Marktdiskriminierung aufweist.

Jenseits nationaler Interessen lauert das Problem noch enger gefasster privater Interessen, die sich aus einem überfinanzierten biopharmazeutischen Innovationsmodell ergeben. Das Geschäftsmodell für künftige Impfstoffentwicklungen wird bereits jetzt evaluiert, nachdem die Pandemie den potenziellen Geldsegen für die Investoren erkennen ließ. Und während sie davon profitieren, dass Aktienkurse drastisch ansteigen, Kapitalgewinne in die Höhe schnellen und man Aktien jenes Unternehmens genau an dem Tag abstoßt, an dem vielversprechende vorläufige Ergebnisse aus klinischen Studien verkündet werden, erscheint die Bereitstellung eines Impfstoffs für alle Menschen nur mehr als Nebensächlichkeit.

Die Covid-19-Krise ist ein perfekter Test dafür, ob sich in den kommenden Jahren ein stärker auf die öffentliche Gesundheit ausgerichteter Ansatz für Innovation und Produktion durchsetzen wird. Während Pfizer an dem Modell der Maximierung des Shareholder Value festhält, hat sich AstraZeneca zumindest verpflichtet, „während der Pandemie“ keinen Profit aus seinem  Impfstoff schlagen zu wollen. Doch trotz aller öffentlichen Investitionen, mit denen diese Innovationen finanziert wurden, bleibt der Prozess undurchsichtig, so dass man sich fragt, ob  AstraZeneca tatsächlich bereit ist, der öffentlichen Gesundheit Vorrang vor dem Gewinn einzuräumen und seinen Impfstoff zum Selbstkostenpreis anzubieten.

Obwohl die jüngsten Nachrichten über Impfstoffe Hoffnungen weckten, haben sie auch das kaputte Geschäftsmodell der pharmazeutischen Industrie offengelegt und Zweifel an den Aussichten auf die Bereitstellung eines Impfstoffs für die Menschen und die Verwirklichung des Konzepts „Gesundheit für alle“ aufkommen lassen. Wenn wir weitermachen wie bisher, könnten wir in dieser Krise irgendwie über die Runden kommen. Aber es gibt einen besseren Weg. Bevor uns die nächste Pandemie ereilt, müssen wir Impfstoffe als globales öffentliches Gut anerkennen und damit beginnen, das Innovationssystem in Richtung symbiotischer, im öffentlichen Interesse geführter öffentlich-privater Partnerschaften zu entwickeln.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier