Nicht alles muss weg – Einwurf des Wegwurfs
Die Kölner Firma innatura sammelt und lagert die ausgemusterten Waren großer Unternehmen und verteilt sie an gemeinnützige Organisationen. Dem Wegwerfzwang wird damit ein Ende gesetzt.
Mit zügigen Schritten geht Juliane Kronen durchs Lager. Es platzt aus allen Nähten und muss bald erweitert werden. Auf über 400 Quadratmetern stapeln sich Kartons, randvoll mit Duschgel, Shampoo, Rasierschaum, Windeln, Kuscheltieren, Spielzeug, Hausschuhen, Rucksäcken und vielem mehr. Alles fabrikneu und trotzdem Abfall. Eigentlich.
200.000 Flaschen Shampoo. Damit fängt vor sieben Jahren alles an. Ein Hersteller will sie loswerden, weil sie falsch beschriftet sind. Wegwerfen wäre zwar schade, aber sein Lager möchte er damit nicht blockieren. Juliane Kronen, damals noch Unternehmensberaterin bei einem großen Konzern, wird zu Hilfe gerufen. Ob sie denn einen Abnehmer wüsste. In zwei Tagen müsste die Ware vom Hof verschwinden. Sie telefoniert sich die Finger wund. Da sie auch Hilfsorganisationen berät, ist sie gut vernetzt. Doch niemand will das Marken-Shampoo haben. „200 Flaschen, das ginge vielleicht, aber nicht 200.000“, hört sie immer wieder. Das Shampoo wird entsorgt.
Kronen lässt das keine Ruhe. Eine patente und resolute Frau, die sofort beginnt, sich in das Thema einzuarbeiten. Sie ist empört, als sie erfährt, dass deutsche Firmen Jahr für Jahr Waren im Wert von sieben Milliarden Euro wegwerfen. Darunter sind viele hoch- und neuwertige Sachen: Kosmetik, Waschmittel, Büroartikel, Haushaltswaren, Socken, T-Shirts, Sonnenbrillen, sogar Kinderwagen und Unzähliges mehr. Sie landen im Müll, weil sie winzige Fehler haben, falsch etikettiert sind, nicht in der richtigen Menge abgefüllt oder zu viel davon hergestellt wurde. „Ein Unding!“, findet Kronen. Noch am selben Abend trifft sie sich mit zwei Kollegen auf ein Kölsch und berät, was man dagegen tun kann. Viele Firmen würden die Waren zwar gern spenden, doch fehlen ihnen die Logistik und das Netzwerk.
Die Idee zu innatura ist geboren: ein Unternehmen, das die überschüssigen Produkte einsammelt, sie lagert und an gemeinnützige Organisationen weitergibt – für eine kleine Vermittlungsgebühr. Mit dieser finanziert innatura seine Transport-, Lager- und Personalkosten. „Unsere Kunden sparen dabei immer noch enorm“, erklärt Kronen. „Eine Flasche Marken-Shampoo kostet normalerweise um die zwei Euro. Bei uns zahlt man dafür 20 bis 30 Cent.“ innatura schafft also eine Win-win-Situation für beide Seiten – und für die Gesellschaft: Die Firmen erzeugen weniger Abfall, die sozialen Einrichtungen haben weniger Kosten. Nichts landet auf dem Schwarzmarkt, was bei Überproduktionen nicht selten passiert.
Juliane Kronen kennt sich mit Waren und Zahlen aus. Sie hat einen Doktortitel in Betriebswirtschaft und ein Herz für soziale Projekte. Warum also nicht selbst eins auf den Weg bringen? „Ich dachte mir, da kann ich nochmal ganz andere Hebel ziehen, als nur zu versuchen, die Dividende eines DAX-Konzerns um weitere 0,03 Prozent zu erhöhen.“
Doch nebenberuflich wird das nicht gehen, das ist ihr schnell klar. Also atmet sie tief durch, kündigt ihren Job und legt einfach los. Sie entwickelt ein Geschäftsmodell, klappert potenzielle Spenderinnen und Empfänger ab, lässt eine Website errichten, sucht ein Lager und einen Investor. „Puh, das war ein Kraftakt, die Anschubfinanzierung zu stemmen“, erinnert sie sich. Die 53-Jährige war einmal Leistungssportlerin im Rennrudern. Da hat sie gelernt zu kämpfen. Das Geld kommt schließlich als Gesellschafterdarlehen von einer Firma, die auf Sozialunternehmen spezialisiert ist. 2013 ist innatura startklar.
Inzwischen hat Kronen erfahren, dass es in Großbritannien schon seit Jahren eine ähnliche Organisation gibt: In Kind Direct, vor 20 Jahren von Prinz Charles aufgebaut. Sie schafft es, ihn als Schirmherrn für ihre Firma zu gewinnen und trifft ihn 2014 persönlich. Der Prinz engagiert sich seit Jahrzehnten für nachhaltige Projekte. Er ist von innatura beeindruckt und sagt: „Es ist mir eine Ehre, Sie zu unterstützen.“
Schon in den ersten anderthalb Jahren kann innatura Warenspenden im Wert von 2,7 Millionen Euro an über 300 gemeinnützige Organisationen vermitteln. Nicht nur in Deutschland, sondern etwa auch in Syrien und Kambodscha. „Wir haben zum Beispiel einen ganzen LKW mit Kinderkleidung für die Malteser besorgt, die damit 150 Flüchtlingseinrichtungen beliefert haben“, erzählt Juliane Kronen. Eine Mindestbestellmenge gibt es bei innatura nicht. Man habe auch schon 100 Heftpflaster an eine Arztpraxis geschickt, die kostenlos Obdachlose behandelt.
Auch die Berliner Bahnhofsmission gehört zu den Kunden von innatura. Im Vorraum der Herrentoilette steht die Friseurin Franziska Winter neben einem Berg Haare. Sie trägt knallbunte Leggings und einen gelben Kittel mit der Aufschrift „Ich helfe Ihnen.“ Jeden Mittwoch ist sie hier. Ehrenamtlich. „Das hat sich aber gelohnt!“, ruft ihr Kunde, der 66-jährige Jörg*. Darauf habe er sich schon seit Tagen gefreut. „So, ein bisschen Kurz-Wellness noch“, sagt die Friseurin und massiert sein Gesicht mit Eiswasser und Creme. Shampoo und Rasierschaum waren heute ständig im Einsatz. Für die meisten Menschen ohne Obdach oder in finanziellen Schwierigkeiten sind das Luxusartikel, die sie sich nicht leisten können. Die Bahnhofsmission bestellt sie in großen Mengen – da rechnen sich die Rabatte von innatura.
Auch Schlafsäcke, Isomatten und Unterwäsche sind bei Juliane Kronens Kunden begehrt. „Einmal haben wir sogar Billardtische bekommen“, berichtet sie, „was glauben Sie, wie sich die Jugendeinrichtungen darüber gefreut haben!“ Ihre Kunden macht es froh, wenn sie an Produktkosten sparen können, um an anderer Stelle mehr Spielraum zu haben. Da gibt es zum Beispiel eine Therapieeinrichtung, die sich einen Musiktherapeuten leisten kann, seit sie bei innatura bestellt. Oder die Obdachlosenunterkunft, die mehr Schlafplätze anbieten oder zwei neue Duschen einbauen kann.
Gewinn macht innatura nicht. Kostendeckend zu arbeiten, ist das Ziel für das zwölfköpfige Team um Juliane Kronen. Sie selbst lebt derzeit von der Vermietung und Verpachtung von Gebäuden, die sie geerbt hat.
Die Firmenchefin muss weiter. Es gibt viel zu tun. Ein Web-Shop soll demnächst auf der innatura-Homepage aufgebaut werden. Sie will ihr Unternehmen noch bekannter machen, gibt deshalb jede Menge Interviews und geht zu Charity-Treffen. Doch etwas muss sie noch loswerden. Es ärgert sie maßlos, dass Wegwerfen in Deutschland billiger ist als Spenden. „Für Sachspenden muss man Umsatzsteuern zahlen. Das schreckt viele Firmen ab“, sagt sie. Kronen macht deshalb schon seit Jahren Druck auf Politiker und Politikerinnen. Man stimme ihr inzwischen parteiübergreifend zu, dass diese Regelung Unsinn sei – und deshalb hofft sie, dass sie bald fällt.
Juliane Kronen ist eine Powerfrau, der alles zu gelingen scheint, was sie anfasst. Sie ist beeindruckt von Menschen, die – wie sie – die Dinge einfach mal selbst in die Hand nehmen, wenn sie etwas stört. Als Jurymitglied für die Verleihung des Alternativen Nobelpreises lernt sie solche Macherinnen und Macher kennen. Und es wäre kein Wunder, wenn sie selbst eines Tages zu den Nominierten gehörte.
*Der Gast der Bahnhofsmission möchte nur mit Vornamen genannt werden.