EIN LOBLIED FÜR DEN MÜSSIGGANG
Wie wollen wir mit unserer Zeit umgegangen sein? Zwei Design-Studentinnen laden dazu ein, die eigenen Reflexionen über diese Frage für eine Ausstellung in 50 Jahren aufzuschreiben.
Beim Frühstück schon die ersten Mails des Tages raushauen. Während des Zoom-Calls das World Wide Web nach Inlinern durchsuchen. Alle fahren jetzt Inliner. Nach der Arbeit noch Yoga machen und als Symbol der intakten Work Life Balance gibt es abends noch eine Verabredung. Der berichtet man dann vom erfolgreichen Tag. Und vom Stress, den die zweiminütige Busverspätung ausgelöst hat. Während man sich noch unterhält, postet man ein Bild von sich und seiner Verabredung in den sozialen Medien und freut sich darüber, wie effizient man die Zeit gerade nutzt.
Diesen affenschnellen Zahn der Zeit wollen Emmelie Althaus und Leonie Matt in ihrem Video „It´s about time“ ziehen. Die beiden studieren Transformation Design an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Was heißt das? Ein*e Produktdesigner*in schaut sich beispielsweise eine Kaffeekanne an. Kundenbewertungen haben ergeben, dass sie tropft. Die Designer*innen überlegen sich dann etwas Schlaues, wie sie den Kannenkopf so anpassen können, dass das Tropfen aufhört und der Kaffee stattdessen mit einem wohligen Blubbern in der Tasse ankommt, wo er hinsoll. Transformationsdesigner*innen schauen sich an, wo es – metaphorisch gesprochen – in der Gesellschaft tropft.
Ein solches Tropfen nehmen die beiden Studentinnen in Bezug auf Zeitnutzung wahr. Sie sehen überall Beschleunigung mit dem Ziel, möglichst effizient möglichst viel zu schaffen und zu konsumieren. Dieser Schnelligkeitswahn geht dabei oft nicht nur zulasten des eigenen Cortisol-Spiegels, sondern auch zulasten der Umwelt. Denn: Je mehr wir machen, desto mehr CO2 verbrauchen wir notwendigerweise. ReZeitKon, ein Forschungsverbund zum Thema Zeit, erklärt das in etwa so: Wenn ich viel arbeite, kaufe ich vielleicht ein Gerät, um zu Hause Sport zu machen, weil ich vermeintlich keine Zeit habe, um zum Training zu fahren. Das Gerät steht dann zuhause herum und verbraucht Energie. Am Ende benutze ich es vielleicht gar nicht und habe zusätzlich zum steigenden Energieverbrauch noch ein schlechtes Gewissen. Gleichzeitig läuft auch die Wirtschaft immer schneller, Kollektionen werden kurzlebiger, weil die Kaffeemaschine aus Zeitmangel nicht repariert, sondern ersetzt wird. All das verbraucht mehr Ressourcen in weniger Zeit. So kann es nicht weitergehen, beschlossen die beiden Transformatorinnen, denn in diesem Tempo braucht es nicht mehr lange, bis das Fass vor lauter Tropfen überquillt.
Bei ihrer Recherche für ein Designprojekt vertieften sie sich in die Zeit und deren Wandel im Laufe der Jahrhunderte. Heute kommt es in kapitalistischen Ländern einer Selbstbrandmarkung gleich, mit Stolz über eigene Unproduktivität und Faulheit zu sprechen. Noch im antiken Griechenland wurden Müßiggang und freie Zeit als Privileg von Gelehrten angesehen. Was dieser Rückblick in die Geschichte zeigt: Es muss nicht sein, wie es ist.
Ein Schritt auf dem Weg zu einer Veränderung ist Reflexion. Zu diesem Schritt wollen beide andere anregen und eine Zeitkapsel mit Briefen aus dem Jahr 2021 füllen, in denen Menschen ihrer Zeitnutzung auf den Zahn fühlen.
Auch Matt und Althaus reflektierten ihren eigenen Umgang mit Zeit. Sie nahmen sich vor, nur zu festen Arbeitszeiten erreichbar zu sein. Am Wochenende wollten sie sich frei nehmen. Sie stellten fest: Ein Wandel erfordert viel Selbstdisziplin. Es ist gar nicht so leicht, selbst einen Gang runterzufahren, wenn sich um einen herum alles weiterdreht. Diese Erkenntnis bestärkte sie in ihrem Vorhaben, den Müßiggang zu propagieren. Die Zeitkapsel soll 2051 geöffnet werden. Emmelie Althaus und Leonie Matt hoffen, die Ausstellung als Mittfünfzigerinnen dann selbst miterleben zu können. Was werden Menschen im Jahr 2021 über ihre Zeitnutzung geschrieben haben?
Briefe können bis Dezember 2021 gesendet werden an:
Weitere Informationen sowie Anregungen für den Inhalt des Briefes finden sich im Open-Call.